Wege zur Durchsetzung einer demokratischen Debattenkultur


(Text zur Tagung des Forums Friedensethik der Evangelische Landeskirche in Baden, 11.11.2023 Karlsruhe. Thema: „Bedrohte Diskurse – Ist bei Themen wie Ukraine und Palästina noch Meinungsfreiheit gegeben?“)

A.  Zur Anwendung des Begriffs „Staatsräson“ im deutsch-israelischen Verhältnis: Auswirkungen auf das Rechtsbewusstsein

B. Voraussetzungen einer demokratischen Debattenkultur

I. Die relevanten Rechtsbereiche

II. Höchstrichterliche Urteile als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für eine demokratische Debattenkultur: Defizite in Zivilgesellschaft und politischer Kultur

1.     Schwäche einer für liberale und rechtsstaatliche Grundsätze eintretenden Zivilgesellschaft

2.    Die kommunikationsstrategische Ebene der Betreiber der BDS-Beschlüsse

III.      Strukturfunktionale Latenz als übergreifender Erklärungsansatz

Fußnoten

Anlagen:

Anlage 1: Schema Meinungsfreiheit, Demokratieprinzip, Willkürverbot und Sachlichkeitsgebot

Anlage 2: Parlamentarische Anfrage Schulz an den Frankfurter Magistrat 28.1.2021

Wege zur Durchsetzung einer demokratischen Debattenkultur

A.  Zur Anwendung des Begriffs „Staatsräson“ im deutsch-israelischen Verhältnis: Auswirkungen auf das Rechtsbewusstsein

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am 18. März 2008 in ihrer vielzitierten Rede im israelischen Parlament:

Gerade an dieser Stelle sage ich ausdrücklich: Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar, und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.“  [1]

Rechtshistorisch steht der Begriff „Staatsräson“ in einer vordemokratischen Tradition. Er diente vor 1945 dazu, eine als staatliche Vernunft bezeichnete höhere Legitimation zu behaupten im Widerspruch zu Recht und Gesetz.

Das Prinzip der Staatsräson (der Begriff kommt aus dem Lateinischen: ‚ratio status‘ heißt ‚Staatsvernunft‘) hatte in früheren Jahrhunderten, als noch Könige und Fürsten über die Staaten herrschten, große Bedeutung. Es besagte, dass die Interessen des Staates über alle anderen Interessen gestellt wurden. Wenn die Staatsmacht der Ansicht war, dass es dem Interesse des Staates dienen würde, konnten Gesetze aufgehoben und sogar die Rechte der einzelnen Menschen missachtet werden. Der Staat stand über allem.“[2] 

Dieses Staatsverständnis ist dem deutschen Grundgesetz nicht nur fremd, in ihm wurde vielmehr ein bewusster Bruch damit vollzogen. Art. 1 GG Abs. 1 handelt nicht nur von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, sondern auch vom Verhältnis zwischen Staat und den Menschen (also nicht nur der deutschen Staatsbürger). Sie, die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.

In Art.1 Abs 2 des Grundgesetzes kommt das universalistische Grundverständnis zum Ausdruck:

Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.

Einer Staatsräson in der vordemokratischen Rechtstradition von vor 1945 ist damit jede Grundlage entzogen. Art 1 GG ist der bewusst vollzogene Bruch der Mütter und Väter des Grundgesetzes mit einem Staatsverständnis, das die Bürger zur Verfügungsmasse des Staates degradiert. Dem Staat wird im Verhältnis zu den Menschen und Bürgern eine dienende Rolle zugeschrieben.

Dieser Bruch wurde bewusst vollzogen aus Verantwortung vor der deutschen Geschichte, d.h. vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in Deutschland die Missachtung von Recht und Gesetz bis ins verbrecherische hineingesteigert wurde, bis hin zu Angriffskriegen zum Zwecke der Versklavung anderer Völker, bis hin zum Völkermord an den europäischen Juden und anderer Minderheiten.

Eine Verantwortung vor der deutschen Geschichte im Widerspruch zu unserer Verfassung kann es deswegen nicht geben, auch keine Verantwortung gegenüber Israel.

Die verfassungskonforme Anwendung des rechtshistorisch belasteten Begriffs Staatsräson ist dennoch nicht ausgeschlossen. 1977 hat sich die Bundesregierung aus Staatsräson entschlossen, dem Versuch der RAF-Terroristen zu widerstehen, den entführten Arbeitgeberpräsident Martin Schleyer im Austausch gegen inhaftierte RAF-Mitglieder frei zu bekommen. Das geschah mit transparenten und nachvollziehbaren Begründungen: Der Staat dürfe sich nicht erpressbar machen. Am Ende entschied das Bundesverfassungsgericht.

Im deutsch-israelischen Verhältnis findet der Begriff Anwendung i.S. der vordemokratischen, deutsch-nationalen Rechtstradition, die im klaren Widerspruch zu unserer Verfassung steht.

Ähnlich wie die „Interessen des Staates“ beim klassischen Begriff (siehe Zitat oben), bleibt diffus, was Staatsräson im Verhältnis zu Israel zu bedeuten hat. Die Rede von der Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson aus historischer Verantwortung gehört seit Merkels Auftritt in der Knesset zum Standard-Repertoire ritualisierter Reden zum Nahostkonflikt. Den Mut, dem Wahlvolk zu erläutern, was diese Rede im konkreten Fall bedeuten könnte, wäre sie denn für bare Münze zu nehmen, hat dabei niemand.

Nach Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik, erfolgte Merkels Aussage weniger, um eine substanziell neue Qualität deutscher Israelpolitik anzukündigen, als einer abnehmenden Unterstützung für die alte Israelpolitik in der deutschen Öffentlichkeit entgegen zu wirken.[3]

Geht man der Frage nach, warum Angela Merkel sich gerade zu diesem Zeitpunkt geäußert hat beziehungsweise überhaupt die Notwendigkeit gesehen hat, sich in diese Richtung zu äußern, so wird vor allem in Rechnung zu stellen sein, dass die innenpolitische Grundierung der deutschen Israelpolitik in jüngster Zeit einem erheblichen Wandel unterliegt (…) Viele Beobachter verweisen seit Jahren darauf,  dass die grundsätzlich proisraelische Orientierung der deutschen Politik von weiten Teilen der Bevölkerung nicht länger geteilt wird.  Im Gegenteil ist derjenige Anteil gestiegen, der Israel gegenüber eher kritisch eingestellt ist, was bis in Teile der Exekutive und Legislative hineinreicht (…) die grundsätzliche Frage, ob Deutschland eine besondere Verantwortung für Israel trage beziehungsweise Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson sei, wird von weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit zunehmend anders beantwortet als von den politischen Eliten.“

 Die Erosion der öffentlichen Zustimmung zur offiziellen Israelpolitik dürfte wesentlich verursacht sein durch die Berichte über die Menschenrechtslage der Palästinenser, ein Problem, dessen Tragweite diese Politik systematisch ignoriert. Weil die Regierung Merkel der Ursache für den Stimmungswandel in der Bevölkerung nicht politisch begegnen wollte, griff sie auf eine rhetorische Kompensationshandlung zurück, um das Legitimationsproblem ihrer Israel-Politik zu überspielen.

 Die Rede von deutscher Staatsräson aus historischer Verantwortung führt nicht nur zu einem politischen Kollateralschaden, weil sie vernebelt, was Deutschland rechtlich darf und militärisch kann. Vernebelt wird auch die politische Funktion. Das in der Bevölkerung vorhandene Gefühl für Unrecht wird betäubt durch den Appell an vordemokratische, mit dem Grundgesetz in Widerspruch stehende meta-rechtliche Legitimationsversuche für staatliches Handeln.

Kultiviert wird damit nicht ein Rechtsbewusstsein orientiert an unserer Verfassung, sondern eines, das anschlussfähig ist an das Staatsverständnis des deutschen Obrigkeitsstaates. Die deutsche Nahostpolitik im Geiste der Staatsräson ist ein Appell an den deutschen Michel, nicht an den mündigen Bürger.

Man sollte dies im historischen Zusammenhang der deutsch-israelischen Beziehungen sehen. Die Ausblendung der Menschenrechtslage der Palästinenser gehörte seit den 50er Jahren zur DNA der deutsch-israelischen Beziehungen. Das gilt für die offiziellen Beziehungen, wie für deren zivilgesellschaftliche Abwandlungen, etwa im jüdisch-christlichen Dialog.

Das wird man nicht von heute auf morgen grundsätzlich ändern können. Dennoch scheint es einen graduellen Veränderungsprozess zu geben.

 Was ins Auge fällt, ist der allgemeine und gravierende offizielle Begründungsnotstand, wenn es um deutsch-israelische Angelegenheiten und Antisemitismus geht. Die Bundesregierung tritt für die Zweistaatenlösung ein, obwohl israelische Regierungen seit Jahren in Wort und Tat zum Ausdruck bringen, daran kein Interesse zu haben. Israel werde sich an Völker- und Kriegsrecht halten heißt es zum aktuellen Gaza-Krieg, obwohl Israel das Völkerrecht seit Jahren bricht und sich in Gaza-Kriegen noch nie ans Kriegsrecht gehalten hat.

Die deutsch-israelische Freundschaft degeneriert immer mehr zu einem Eliten-Projekt, dem die Zustimmung in der Bevölkerung abhanden kommt. Nicht weil die Deutschen antisemitischer wurden, sondern weil die deutsche Nahostpolitik in grotesker Weise unglaubwürdig wurde, sich von der realen Entwicklung in der Region immer weiter entfernte.

Die liberale Gesellschaft wird in Deutschland und anderswo (Polen, Ungarn, USA/Trump) aus unterschiedlichen Gründen in Frage gestellt, die nichts mit der deutsch-jüdischen Geschichte und dem deutschen Verhältnis zu Israel zu tun haben. Durch das deutsch-israelische Verhältnis kommen Sonderfaktoren hinzu, die das Problem verschärfen.

B. Voraussetzungen einer demokratischen Debattenkultur

I. Die relevanten Rechtsbereiche

Eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung ist zunächst, dass unsere Verfassung respektiert wird.

Dies geschieht nicht. Wenn es um Antisemitismus und Nahostthemen geht, sind es nicht zuletzt staatliche Amtsträger, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstoßen, teils mutwillig, teils aus Unkenntnis.

Das deutsche Grundgesetz beinhaltet ein wohl durchdachtes Regelwerk zur Ermöglichung einer demokratischen Willensbildung (die einschlägigen Urteile sprechen von der „Willensbildung des Volkes“). In diesen Verfassungsartikeln und Gesetzen ist der Wille erkennbar, die Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen, etwa wenn in der Rechtsprechung zum Demokratieprinzip (Art. 20 GG) auf den Grundsatz verwiesen wird, dass diese Willensbildung sich „staatsfrei“ zu vollziehen hat.

Im Rahmen dieses Regelwerks sind drei Rechtsbereiche von zentraler Bedeutung:

1.       Meinungsfreiheit (einschließlich mittelbar faktischer Grundrechtseingriffe) / Art. 5 GG

2.       Äußerungsbefugnis von Amtsträgern / Sachlichkeitsgebot + Willkürverbot

3.       Demokratieprinzip (demokratische Willensbildung ohne steuernde und lenkende Eingriffe des Staates) / Art 20 GG

Die Berücksichtigung aller drei Ebenen ist notwendige aber nicht hinreichende Voraussetzung für eine demokratische, zivilgesellschaftliche Debattenkultur.

Zu allen drei Bereichen gibt es eine geklärte Rechtsprechung, teilweise schon seit Jahrzehnten, wie bei Meinungsfreiheit. In den Urteilen im Kontext von BDS-Verfahren der letzten Jahre wird auf den konkreten Fall bezogen konkretisiert und bekräftigt, was rechtlich im Prinzip geklärt war.  

Zu den drei Rechtsgebieten habe ich ein Schema: Meinungsfreiheit, Demokratieprinzip, Willkürverbot und Sachlichkeitsgebot erstellt, in der Hoffnung, das Verständnis zu erleichtern (s.u. Anhang)

Zu Meinungsfreiheit liegt ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vor, das den Betreibern der Anti-BDS-Beschlüsse mehrjähriges, verfassungswidriges Verhalten bescheinigt.[4] Bei diesem Thema ist v.a. wichtig: Antisemitismus, Rassismus und andere Varianten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind vom Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit umfasst. Im Bereich „A“ des Schemas wird unterstellt, das Vorliegen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist unstreitig. Die Bereiche A1 und A2 sind durch die sog. Friedlichkeitsgrenze getrennt, die erlaubtes staatliches Handeln unterschiedlich festlegt. Jenseits der Friedlichkeitsgrenze, wenn z.B. Meinungsäußerungen den Charakter von Volksverhetzung annehmen, muss der Staat mit Verboten und Strafgesetz intervenieren. Diesseits der Friedlichkeitsgrenze (im Bereich A2 des Schemas) muss der Staat sich im Interesse der Verteidigung unserer Verfassung positionieren, hat aber die verfassungswidrige Meinungsäußerung zu dulden.

Für die Art und Weise der staatlichen Intervention im Bereich A2 gilt die Rechtsprechung zur Äußerungsbefugnis von Amtsträgern. Diese besagt, Amtsträger haben grundsätzlich keine Meinungsfreiheit, wenn sie sich von Amts wegen öffentlich äußern. Sie dürfen nicht herumschwadronieren wie Hinz und Kunz am Stammtisch. Sie dürfen nicht gegen das Demokratieprinzip verstoßen (s.u.). Sie müssen außerdem einen argumentativen, auf Tatsachen gestützten Argumentationsstil beachten. Das gilt auch, wenn die Gegenseite solche Regeln nicht beachtet. Es gibt für Amtsträger kein Recht auf Gegenschlag, auch wenn die Gegenseite unter die Gürtellinie tritt.

Demokratie lebt vom Austausch sachlicher Argumente; sie zielt auf eine vernunftgeleitete Sorge um das gemeine Wohl. Ein Amtswalter, der am politischen Diskurs teilnimmt, hat deshalb seine Äußerungen an dem Gebot eines rationalen und sachlichen Diskurses auszurichten.“ [5]

Die Diskrepanz zwischen Norm und Verfassungswirklichkeit lässt sich am Beispiel Uwe Becker verdeutlichen. Das Frankfurter Verwaltungsgericht bescheinigte diesem, eine Presseerklärung die er als Bürgermeister Frankfurt für den Magistrat abgab,  widerspreche „insgesamt“ dem Sachlichkeitsprinzip. Becker hatte der deutsch-israelischen Jüdin Judith Bernstein u.a. Antisemitismus vorgeworfen. Weit davon entfernt irgend einen Ansatz zum „Austausch sachlicher Argumente“ anzubieten, präsentierte Becker nichts außer Hass- und Hetzreden. Becker stört das nicht. Wenige Wochen nach dem Urteil äußerte er auf einer Kundgebung von Stadt und Jüdischer Gemeinde in Frankfurt zu Roger Waters, dieser habe den Holocaust geleugnet – ohne jeden Beleg.

Das Thema Demokratieprinzip wurde in den Urteilenzu Anti-BDS-Beschlüssen zwar teilweise behandelt, aber nicht bezogen auf diese Beschlüsse selbst, d.h. die Frage ob die Anti-BDS-Beschlüsse selbst dem Demokratieprinzip widersprechen war nirgendwo Gegenstand des Verfahrens.

Dies ist bedauerlich, denn die Klärung der Vereinbarkeit von Demokratieprinzip und Anti-BDS-Beschlüssen, hätte die wohl politisch brisanteste und weitreichendste Frage aufgeworfen, mit dem Potenzial das Amt der Antisemitismusbeauftragten aus grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Erwägungen in Frage zu stellen.

Dazu gibt es einen Aufsatz von Prof. Gärditz (Mandat zur Meinungspflege). [6] Dieser wurde offensichtlich in Reaktion auf die Initiative 5.3 GG Weltoffenheit geschrieben, befasst sich aber mit den Befugnissen von „Beauftragten“ allgemein, nicht mit Antisemitismusbeauftragten speziell. Nach Gärditz ist das Amt eines Beauftragten, das ein „Mandat zur Meinungspflege“ im Regierungs- bzw. Staatsauftrag beansprucht, eine verfassungsrechtliche Fehlkonstruktion, weil ein derartiges Amt dem Demokratieprinzip, genauer der demokratischen Willensbildung des Volkes widerspricht. Gestützt wird dies auf Art. 20 Abs. 2 GG. Dort heißt es:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Im Verfassungsartikel selbst kommt der Begriff „Demokratieprinzip“ oder „Demokratiegrundsatz“ nicht vor. Die Rechtsprechung hat aus dem in Art. 20 formulierten Demokratiegedanken das Prinzip entwickelt, die demokratische Willensbildung des Volkes habe sich in analoger Weise zur Herrschaft des Volkes zu vollziehen. Demokratische Willensbildung hat sich von „unten nach oben und nicht umgekehrt“, „staatsfrei“, „ohne steuernden und lenkenden Einfluss des Staates“ zu vollziehen, um die gängigen Standardformulierungen aus Urteilen zu zitieren.

Der Widerspruch der Anti-BDS-Beschlüsse zu dieser Norm und Rechtsprechung ist offensichtlich. Wenn vom Bundestag über die Länderparlamente, Kreistage und Kommunen Anti-BDS-Beschlüsse gefasst werden, dann sind alle Kriterien erfüllt für eine Willensbildung von Staats wegen von oben nach unten, im Widerspruch zur Willensbildung des Volkes, wie in der einschlägigen und geklärten Rechtsprechung unzählige Male wiederholt. 

Am Beispiel der BDS-Beschlüsse in Verbindung mit der Amtspraxis der Antisemitismusbeauftragten lässt sich die fatale Auswirkung auf die Debattenkultur verdeutlichen. In einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages vom Mai 2019 heißt es: [7] 

Der Beschluss stellt eine politische Meinungsäußerung im Rahmen einer kontroversen Debatte dar.“

Damit ist klar: Dieser Beschluss ist zu verorten in jenem Bereich in dem Antisemitismus Gegenstand zivilgesellschaftlichen Meinungsstreits (also Bereich B meines Schemas) ist. In diesem Bereich hätte sich die Willensbildung des Volkes „staatsfrei“ zu vollziehen.

Tatsächlich vollzieht sich aber etwas ganz anderes: Durch die institutionalisierte Intervention des Staats über Antisemitismusbeauftragte bzw. die nicht institutionalisierte Intervention von Amtsträgern, die nicht Antisemitismusbeauftragte sind, werden Meinungen zu Antisemitismus aus dem Bereich einer „kontroversen Debatte“ in den Bereich einer objektiv festgestellten Tatsache transferiert (im Schema aus dem Bereich B in die Bereiche A2 oder gar A1). 

Die Willensbildung ist nicht „staatsfrei“, der Staat degradiert sich durch diese Amtsträger zu einem Parteigänger in einem zivilgesellschaftlichen Meinungsstreit, aus dem er sich nach dem Willen unseres Grundgesetzes heraushalten sollte. Diese staatlich protegierten Meinungen erhalten dadurch im öffentlichen Diskurs ein Gewicht, das sie ohne staatliche Unterstützung nicht hätten. 

Die Folgen der Missachtung von Recht- und Gesetz für die Debattenkultur sind vielschichtig:

Die Zivilgesellschaft wird entmündigt und dadurch geschwächt.

Unser Grundgesetz hat als Leitbild den mündigen Bürger, der sich aus eigener Verantwortung einmischt und nicht den deutschen Michel, der abnickt, was von oben präsentiert wird. Das Grundgesetz „vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien“.[8] 

In der Demokratiedenkschrift der EKD von 1985 verweist schon die Überschrift (Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe), auf die Einsicht, dass die Aneignung von Verfassungswerten als permanenter Prozess zu denken ist. Der Wert einer Verfassung realisiert sich nicht nur in der juristischen Qualität des Verfassungstextes und der Rechtsprechung durch die Justiz. Dass die Grundideen der Verfassung im gesellschaftlichen und politischen Alltag gelebt werden, hängt wesentlich davon ab, dass die zentralen Verfassungsnormen in der Zivilgesellschaft nach Sinn und Inhalt bekannt, verstanden, angeeignet, verinnerlicht öffentlich vertreten und verteidigt werden.

Die Aufgabe des Staates sollte darin bestehen, die freie „zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung“ zu stärken. Durch Bevormundung wird sie gehemmt. Beim Thema Antisemitismus und Nahost kommt hinzu, dass wir es in allen staatlichen Bereichen mit einem weit verbreiteten Begründungsnotstand zu tun haben, der durch rhetorische Scheinlegitimationen überspielt wird (siehe Ausführungen zur Staatsräson als rhetorische Kompensationshandlung um die Legitimationsprobleme deutscher Nahostpolitik zu überspielen).

Eine Folgewirkung der Entmündigung und Schwächung von Zivilgesellschaft manifestiert sich in der Rückwirkung auf die im Meinungsstreit von staatlicher Intervention protegierten zivilgesellschaftlichen Gruppen. Wenn der Staat einer Fraktion im Meinungskampf die gedankliche Anstrengung um das bessere Argument abnimmt, trägt das nicht dazu bei sich die Fähigkeit zur Behauptung in der freien Auseinandersetzung zu erhalten. Bei den jüdischen Gemeinden in Deutschland kommt hinzu: Sie vermeiden von sich aus im Binnenverhältnis eine kontroverse Auseinandersetzung mit nahostpolitischen Fragen. Sie interessieren sich in ihrer Mehrheit nicht für die Menschenrechtslage der Palästinenser. Das gilt für Deutschland wie für Israel-Palästina. Sie interessieren sich eher dafür, eigene Informations- und Diskussionstabus für die Restgesellschaft verbindlich zu machen, wie zahlreiche Versuche zur Verhinderung von Veranstaltungen belegen, die den Nahostkonflikt eher aus palästinensischer Perspektive thematisieren.

Der Staat kann seine Integrationsfunktion nicht erfüllen, wenn er sich mit einer Partei im zivilgesellschaftlichen Meinungsstreit gemein macht.

Man ist nicht glaubwürdig, wenn man Diskussionsleiter und -teilnehmer zugleich sein will. Amtsträger sind gehalten, in ihrem öffentlichen Kommunikationsverhalten auf den Zusammenhalt der Gesellschaft hinzuwirken. Dies hat auf der Basis unseres Grundgesetzes zu erfolgen. Diese Integrationsfunktion kann nur sichergestellt werden durch die Beachtung des Demokratieprinzips, so das BVerwG in einem Urteil, das in diesem Zusammenhang ausführt:

Staatliche Amtsträger dürfen ferner in der öffentlichen Diskussion Vertreter anderer Meinungen weder ausgrenzen noch gezielt diskreditieren, solange deren Positionen die für alle geltenden rechtlichen Grenzen nicht überschreiten, namentlich nicht die allgemeinen Strafgesetze verletzen.“ [9]

Soweit die Vorgaben des Grundgesetzes. Die Diskrepanz zur Wirklichkeit lässt sich wieder am Beispiel des hessischen Antisemitismusbeauftragten und damaligen Frankfurter Bürgermeister Becker demonstrieren.

In einem Brief (21.1.2021) an OB Feldmann informierte Dr. Schulz (rechtspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Frankfurter Stadtparlament) das Stadtoberhaupt über das Urteil des höchsten Hessischen Verwaltungsgerichts, das den kommunalen Anti-BDS-Beschluss als verfassungswidrig einordnete:

Die von der Stadt ausgeübte Praxis, die insbesondere von Herrn Bürgermeister Becker politisch vorangetrieben wird, stellt eine gezielte Missachtung unseres Grundgesetzes und der Justiz dar.“

Dr. Schulz spricht nicht von einem irrtümlichen Verfassungsbruch, sondern von einem „gezielt“, also vorsätzlich begangenen. Uwe Becker machte daraus nicht einmal ein Geheimnis, wie sich aus seiner Antwort auf die Parlamentarische Anfrage Schulz ergibt (vgl. Anlage 2).[10] Angesichts des Vorhalts eines Urteils des höchsten hessischen Verwaltungsgerichts, das dem Frankfurter Anti-BDS-Beschluss Verfassungswidrigkeit bescheinigt, sagt Becker, „der Magistrat agiere selbstverständlich auf Grundlage und unter Beachtung von Recht und Gesetz, in der Vergangenheit, heute und auch in Zukunft.“

II. Höchstrichterliche Urteile als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für eine demokratische Debattenkultur: Defizite in Zivilgesellschaft und politischer Kultur

Nach dem Urteil des BVerwG war zu beobachten, dass dieses in der öffentlichen Auseinandersetzung keine Rolle spielt, schon weil niemand dieses Urteil kennt. Das Urteil wurde ignoriert, aber auch offen bekämpft. Becker erklärte praktisch die Missachtung des BVerwG-Urteils zu einer Gewissenspflicht: „Das Bundesverwaltungsgericht“ habe „grünes Licht für die Verbreitung von israelbezogenem Judenhass in Deutschlands Städten gegeben.“ [10a]

Bezogen auf die Anti-BDS-Beschlüsse war die Justiz die einzige unter den für die Wahrung von Recht und Verfassung zuständigen Instanzen, die funktioniert hat. Exekutive, Legislative, Presse und Medien erwiesen sich als Totalausfall.

Es zeigte sich: Die höchstrichterliche Klärung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Gewährleistung einer demokratischen Debattenkultur. Höchstrichterliche Urteile können nur dann eine Wirkung entfalten, wenn sie von Politik und Gesellschaft verteidigt werden.

In der gleichzeitig mit dem BVerwG-Urteil einsetzenden Documenta-Debatte, wurde über BDS diskutiert, als hätte das BVerwG-Urteil BDS-Mitgliedern und -Unterstützern nicht uneingeschränkte Meinungsfreiheit zugestanden. Claudia Roth wurde in der Bundestagsdebatte zur Documenta kritisiert, weil sie dem Ant-BDS-Beschluss des Bundestags nicht zustimmte, wohlgemerkt nach dem BVerwG-Urteil. Der Bundestagsbeschluss ist rechtlich anders gelagert als die kommunalen Anti-BDS-Beschlüsse. Weil in ihm die Kommunen zur Umsetzung ihrer Beschlüsse aufgefordert werden, steht mindestens fest, dass er zu verfassungswidrigem Verhalten auffordert. [10b]

Das Urteil spielt auch keine Rolle bei den Zukunftsplanungen des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein. In dessen Text zur „Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben[11] (November 2022) wird der Umstand, dass der Stratege Klein und andere über einen Zeitraum von vier Jahren Antisemitismusbekämpfung in verfassungswidriger Weise betrieben haben, mit keinem Wort erwähnt.

Zu den Faktoren die dies erklären können:

1.       Schwäche einer für liberale und rechtsstaatliche Grundsätze eintretenden Zivilgesellschaft

Einige Beispiele können diese illustrieren.

a) Wissensschaft:

Juristen: Eigentlich hätten die Anti-BDS-Beschlüsse einen Sturm der Entrüstung unter Juristen auslösen müssen, weil diese in Widerspruch zu einer seit Jahrzehnten geklärten Rechtsprechung standen, ausgehend vom Lüth-Urteil 1958. Das BVerwG und die Vorinstanz haben im Münchner Verfahren im Wesentlichen nichts anderes gemacht, als diese Rechtsprechung zu wiederholen.

Antisemitismusforschung: Der Unabhängige Expertenrat zu Antisemitismus (UEA) der Bundesregierung stellte in seinem Bericht 2017 (also in dem Jahr, in dem die ersten kommunalen Anti-BDS-Beschlüsse gefasst wurden) folgendes fest: „Keine Betrachtung findet hier aufgrund der geringen Relevanz für den deutschsprachigen Raum die BDS-Bewegung“. [12] Trotzdem ließen die Experten es ohne ein Wort der öffentlicher Kritik zu, dass der Eindruck erweckt wurde, es handle sich bei der BDS-Bewegung um die wichtigste antisemitische Manifestation in der deutschen Gesellschaft. UEA-Mitglied Prof. Bergmann begründete seine Zurückhaltung auf Anfrage (Mail vom 16.11.2020), u.a. damit, dass er sich „nicht näher mit dieser internationalen Bewegung befasst“ habe. Wenn eine Mücke zum Elefanten gemacht wird, muss man kein Mückenexperte sein, um erstens auf das Problem dieser grotesken Fehlgewichtung aufmerksam zu machen und zweitens, um der Frage nachzugehen, was darin zum Ausdruck kommt hinsichtlich der Antisemitismusbekämpfung von Staats wegen in Deutschland.

b) Medien

Lokalpresse und kommunale Anti-BDS-Beschluss:

Wir haben als Frankfurter Bürgerinitiative [13] die lokalen Medien aber auch die Stadtverordneten bei unterschiedlichen Gelegenheiten auf den von Becker/Magistrat zu verantwortenden Verfassungsbruch im Zusammenhang mit dem kommunalen Anti-BDS-Beschluss aufmerksam gemacht. Wir übernahmen insoweit die Rolle der Medien und der Opposition im Stadtparlament. Dies blieb praktisch ohne jede Resonanz. Das hat Becker natürlich zur Kenntnis genommen. Auch deswegen meinte er agieren zu können, als stünde er über dem Gesetz.

In München hat das städtische Kulturreferat in einer Stellungnahme zur Begründung des kommunalen Anti-Beschluss auf einer DIN-A-4-Seite ein vernichtendes Urteil ausgestellt. Die Stellungnahme machte u.a. darauf aufmerksam, dass es am anderen Ende des Mittelmeers nicht nur Israelis, sondern auch Palästinenser gibt.

Die BDS-Kampagne findet zudem im Kontext eines größeren politischen Weltkonfliktes, dem Nahostkonflikt statt. Das multiperspektivische Element des Nahost-Konflikts sollte in der Beurteilung der BDS-Kampagne zumindest eine kurze Erwähnung finden“. [12a]

Sprachregelungen bei öffentlich-rechtlichen Medien

Deutsche Welle:

Welche Blüten staatlich gelenkte Meinungsbildung mitunter zeitigt, war auch im Auslandsrundfunk „Deutsche Welle“ (DW) zu beobachten: Diese, eine ausschließlich mit öffentlichen Mitteln finanzierte Anstalt des öffentlichen Rechts, orientierte ihre journalistischen Mitarbeiter mit einer internen Sprachregelung  zu „Israel und die palästinensischen Gebiete“:

„Wir verweisen niemals auf eine israelische ‚Apartheid‘ oder ein ‚Apartheidsregime‘ in Israel. Wir vermeiden es auch, von ‚Kolonialismus‘ oder ‚Kolonialisten‘ zu sprechen“.  [14]

Die Frage, wie fern dies vereinbar sei mit dem Auftrag der DW objektiv und ohne Bevormundung von Mitarbeitern und Hörern zu informieren, teilte die Rechtsabteilung (22.9.2021/Thomas Gardemann) des Senders mit:

Die Guidelines für unsere Redaktionen dienen dem Ziel einer ausgewogenen, faktenbasierten und unparteilichen Berichterstattung, um eine unabhängige Meinungsbildung zu ermöglichen. Sie dienen damit der praktischen Umsetzung der Programmgrundsätze, sind verfassungskonform und sollen eine kritische Berichterstattung und Auseinandersetzung mit allen am Nahost-Konflikt beteiligten Parteien nicht unterbinden, sondern im Gegenteil fördern“.

Zu Apartheid wurden allein in den letzten drei Jahren insgesamt sechs Berichte internationaler und regionaler Menschenrechtsorganisationen vorgelegt, die Israel Apartheid testieren, entweder beschränkt auf die besetzten Gebiete oder für den gesamten Verantwortungsbereich. Apartheid ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Völkerrecht. Dieses Thema zu tabuisieren, sollte deswegen unter keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt sein.

ARD:

Nach dem 7.10. hat die ARD ein umfangreiches, internes Glossar erarbeitet, das u.a. folgende Sprachregelungen enthält [12b]:

Wir sprechen weiterhin von „Angriff/en aus Gaza auf Israel“ oder „Terrorangriff/e auf Israel“. Es kann aber auch „Krieg gegen Israel“ verwendet werden.

Was unbedingt vermieden werden muss, sind Worte wie „Gewaltspirale“ – und auch „Eskalation in Nahost“ beschreibt die aktuelle Lage seit Samstag nicht ausreichend. Die Situation ist komplexer.

Bitte passt auch auf wie wir das Wort „Angriff“ genau verwenden: In dieser Situation sind es „Gegenangriffe von Israel auf Gaza“. Es ist verkürzt zu sagen oder schreiben „Angriffe auf Israel und Gaza“.“

Der journalistische Widerstand in diesen Institutionen scheint sich allenfalls darin zu manifestieren, dass diese internen Dokumente in die Öffentlichkeit durchgestochen werden. Was nicht stattzufinden scheint, ist öffentlicher Protest gegen diese Formen der Bevormundung und Gleichschaltung, gegen dieses „wir verweisen niemals“, „wir sprechen weiterhin“ und „was unbedingt vermieden werden muß“.  

Kirche:

In der evangelischen Kirche in Deutschland manifestiert sich das Problem üblicherweise vor dem Hintergrund des jüdisch-christlichen Dialogs. Eine Kirchengemeinde plant eine Veranstaltung, in der auch oder teilweise die palästinensische Konfliktperspektive thematisiert wird. Die befreundete jüdische Gemeinde interveniert. Die Leitung der ev. Gemeinde knickt ein –  meistens, wenn auch nicht immer. Man wolle die guten Beziehungen zur jüdischen Gemeinde nicht belasten.

Ein besonders krasser Fall: Die Ausladung des Journalisten und Autors Andreas Zumach, der in einer evangelischen Bildungseinrichtung in Karlsruhe zum Thema: „Israels wahre und falsche Freunde“ sprechen sollte. Eine Frau Rosenberg, Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Karlsruhe, intervenierte. Begründung: Zumach habe behauptet „Israel sei schuld gewesen am Zunami“, sei für die antisemitische BDS-Kampagne eingetreten usw., Behauptungen, die Frau Rosenberg nach Aufforderung durch Zumachs Anwalt ausnahmslos noch vor Veranstaltungsbeginn zurücknahm.

Dennoch blieb der zuständige Stadt-Dekan Schalla bei der Absage, „weil ich Schaden für das Verhältnis zwischen Evangelischer Kirche und der Jüdischen Kultusgemeinde Karlsruhe abwenden möchte.“ [15]

John Thomas, ehemaliger Generalminister und Präsident der United Church of Christ (UCC), sagte zu dieser Sorte Jüdisch-Christlicher Dialog:  „Obwohl wir uns darüber im Klaren sind, dass Kritik an der Politik des Staates Israel kein Antisemitismus ist, fühlen sich einige Juden durch unsere Resolution (zu Apartheid / H.S-) eindeutig angegriffen. Aber Beziehungen, die nicht ehrlich sind, wenn es um grundlegende Differenzen in Fragen geht, die für beide Seiten von entscheidender Bedeutung sind, sind letztlich oberflächlich„.[16]

Frau Rosenberg hatte offensichtlich gelogen über Andreas Zumach und gegenüber dem Stadtdekan von Karlsruhe.   

2.       Die kommunikationsstrategische Ebene aus Sicht der Betreiber der BDS-Beschlüsse

Bis zum Urteil des BVerwG gegen die Anti-BDS-Beschlüsse dachte ich, wie dumm muss man sein, Beschlüsse durchzusetzen, von denen absehbar ist, dass sie am Ende von den Gerichten kassiert werden.

Aus heutiger Sicht habe eher ich zu kurz, gedacht. Es scheint so, als war die Niederlage vor dem BVerwG ein von Anfang an eingeplanter Kollateralschaden.

Der Nutzen für die Meinungsfreiheit durch das Urteil des BVerwG ist überschaubar. Es hilft bei der Anmietung von Räumen in Kommunen. Der Unterschied besteht hier im Wesentlichen darin, dass man nicht prozessieren muss. Die Anmietung kommunaler Räume konnte auch ohne BVerwG-Urteil durchgesetzt werden, weil die Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit seit Jahrzehnten geklärt ist.

Das Urteil des BVerwG hilft nicht oder kaum in der zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung (siehe Documenta-Debatte) und bei der Ausformulierung der zukünftigen staatlichen Strategie zur Antisemitismusbekämpfung (siehe Nationale Strategie des Felix Klein). Das ist so, weil das Urteil schlicht und einfach ignoriert wird. In der Zivilgesellschaft häufig aus Unkenntnis. Bei den Strategen staatlicher Antisemitismusbekämpfung geschieht dies gezielt und bewusst. Weitgehend außerhalb des Blickfeldes der Öffentlichkeit werden hier Begründungen geliefert für die Einschränkung der Meinungsfreiheit etwa durch polizeiliche Auflagen bei Demonstrationen. 

Die Betreiber dieser Beschlüsse konnten die Zeit von 2017 bis 2022 nutzen, um in Politik und Gesellschaft die Vorstellung zu etablieren, das Gedankengut von BDS und Sympathisanten der Kampagne sei direkt oder mittelbar antisemitisch (Stichwort „israelbezogener Antisemitismus“). Entscheidend aus kommunikationsstrategischer Sicht ist nicht die legalistische Ebene, sondern vielmehr, dass die BDS-Beschlüsse über einen Zeitraum von vier Jahren die Möglichkeit eröffneten, BDS und alles was damit in Verbindung gebracht wurde öffentlich zu stigmatisieren, als antisemitisch zu labeln.

Voraussetzung für das vorläufige Gelingen dieser Übung ist u.a. die langfristige Prägung des deutsch-israelischen Verhältnisses im Geiste einer Staatsräson, die ganz wesentlich dadurch gekennzeichnet ist und von Anbeginn war, die palästinensische Konfliktperspektive und Menschenrechtslage auszublenden. Ohne diese Vorgeschichte kann man die z.T. in vorauseilendem Gehorsam reflexhaft vollzogene Gleichschaltung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen nicht verstehen.

III.      Strukturfunktionale Latenz als übergreifender Erklärungsansatz [17]

Beim Thema Nahost oder Antisemitismus kommt man häufig an Punkte, wo man sich fragt, glauben unsere Politiker:innen selbst, was sie sagen.

Halten Baerbock, Scholz und Nouripour beispielsweise die Zweistaatenlösung heute noch für eine politisch realisierbare Konfliktlösung oder täuschen sie das nur vor? Die Frage stellt sich angesichts der Tatsache, dass israelische Regierungen seit Jahren durch Worte und Taten bekundeten, dieses Konzept zu den Akten gelegt zu haben. Was verharmlosend als Siedlungspolitik bezeichnet wird, erwies sich – ganz im Widerspruch zur Zweistaatenlösung – als Vorbereitung zur Annexion der Westbank. 

„Strukturfunktionaler Latenz“ besagt u.a., fehlender Erkenntniswille kann ein Moment des Selbstschutzes beinhalten. Niklas Luhmann sprach in diesem Zusammenhang von „Strukturschutz“ durch „strukturfunktionale Latenz“. Wissen und Erkenntnis ist danach einer selektiven Wahrnehmung unterworfen. Je nach dem, was dem Erhalt der zu schützenden Struktur dient, wird selektiert, was zu wissen oder nicht zu wissen, was zu erkennen oder zu übersehen ist.

Wenn Strukturen Latenzschutz benötigen, heißt dies dann nicht, dass Bewußtheit bzw. Kommunikation unmöglich wäre; sondern es heißt nur, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation Strukturen zerstören bzw. erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und daß diese Aussicht Latenz erhält, also Bewußtheit bzw. Kommunikation blockiert“. [18]

Politiker:innen und Amtsträger würden vermutlich ihre berufliche Existenz gefährden, wenn sie in Deutschland durch „Bewußtheit und Kommunikation“ an jenen Strukturen rüttelten, die seit Jahrzehnten durch die Aufrechterhaltung bestimmter Tabus wie in Stein gemeißelt erscheinen, wenn es um Israel und Antisemitismus geht. Ohne Vorbereitung von Partei und Gesellschaft würde es auf politischen und gesellschaftlichen Selbstmord hinauslaufen, den Binnenkonsens in dieser Blase offensiv in Frage zu stellen. 

„Bewusstheit“ kann man mit der Bereitschaft übersetzen, Fakten subjektiv zur Kenntnis zu nehmen, die das Potential beinhalten, die überkommene Struktur zu in Frage zu stellen. „Kommunikation“ bedeutet, die Zivilcourage, diese Fakten im öffentlichen Diskurs zu vertreten.

Das Konzept Luhmanns kann allgemeine Orientierungen auf den Weg zu einer demokratischen Debattenkultur liefern:

  1. Alle Debattenteilnehmer sind befangen in ihren jeweiligen Blasen, die sich durch einen Binnenkonsens auszeichnen, der inhaltlich nur zum Teil ausgewiesen ist. Dieser Binnenkonsens ist also nicht nur das Ergebnis einer sich rational vollziehenden Bemühung um Erkenntnis. Der Reflektionshorizont in der Blase wird vielmehr auch durch andere, irrationale Faktoren begrenzt.
  • Personenbezogenes Bashing gegen Politiker oder andere greift deswegen zu kurz und kann einem Verständnis der Handlungsgründe beteiligter Personen in ihren Rollen im Wege stehen. Angemessen ist eine Form der Kritik, die keine Abstriche in der Sache macht, aber die Handlungsmöglichkeiten beteiligter Personen berücksichtigt und transparent macht.
  • Der Binnenkonsens in der Blase ist immer in der Gefahr in Frage gestellt zu werden. Diese Gefahr steigt, wenn die Möglichkeiten abnehmen, diesen Konsens rational zu begründen.

Der deutsche und europäisch-amerikanische Mainstream-Konsens zu Nahost ist in einem Prozess der Erosion begriffen. Die politische Aufgabe besteht darin, die Sollbruchstellen eines überlebten Binnenkonsenses zu identifizieren.

Um dies zu konkretisieren: In dem Masse, in dem die Tatsache im öffentlichen Bewusstsein Platz greift, dass Israel mindestens in den besetzten Gebieten Apartheid verantwortet, wird der Binnenkonsens an einem neuralgischen Punkt in Frage gestellt, der auch andere seiner tragenden Säulen zum Einsturz bringt. Apartheid ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Apartheid und „Israel als einzige Demokratie“ im Nahen Osten lässt sich nicht mehr vermitteln.

Angesichts der Indizienlage zu Apartheid gilt es zweierlei zu fordern: Eine Debatte orientiert an der Definition im Völkerrecht und eine völkerrechtlich verbindliche Klärung der Frage.

  • Durch die aktuelle Krise in Nahost könnte sich auf die Debattenkultur zu diesem Thema in zweierlei Hinsicht auswirken:
  1. Die historischen Traumata auf israelischer und palästinensischer Seite erfahren einen massiven Revitalisierungsschub. Dies wird sich mindestens erschwerend auswirken i.S. der Aufrechterhaltung oder Umsetzung einer rationalen Debattenkultur. Klar sollte sein: Die Palästina-Solidarität hat nicht die geringste Chance, aus ihrer Nischenexistenz herauszufinden, ohne politische und moralische Klarheit zum Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten.
  2. Diese Entwicklung könnte innerhalb der Blase der Palästina-Solidarität Sollbruchstellen des eigenen, ebenfalls inhaltlich nicht ausgewiesenen Binnenkonsens hervortreten lassen. Innerhalb der Palästina-Solidarität werden viele Informationen ausgetauscht, aber es wird wenig diskutiert. Das wird sich möglicherweise so nicht fortsetzen lassen. Erforderlich ist beides: Praktische Solidarität und eine Debattenkultur im Binnenverhältnis, die eine offenen Debatte über kontroverse Themen als einen normalen Vorgang einordnet.

Fußnoten


[1] Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor der Knesset am 18. März 2008 in Jerusalem“, https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-796170 

[2] Staatsräson: https://m.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/321175/staatsraeson

[3] Markus Kaim, Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson: Was bedeutet das konkret? 30.1.2015, https://www.bpb.de/apuz/199894/israels-sicherheit-als-deutsche-staatsraeson?p=all

[4] https://www.bverwg.de/200122U8C35.20.0

[5] Amtliche Äußerung eines Oberbürgermeisters im politischen Meinungskampf, 13. September 2017, Az: 10 C 6.16, Leitsatz 2 und Randnotizen 28 + 29 sind für den hier relevanten Kontext einschlägig, https://www.bverwg.de/130917U10C6.16.0

[6] https://verfassungsblog.de/mandat-zu-meinungspflege/

[7] BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages (Drucksache 19/10191), S 5; https://www.bundestag.de/resource/blob/814894/cf6a69d010a1cc9b4a18e5f859a9bd42/WD-3-288-20-pdf-data.pdf

[8] (BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009 – 1 BvR 2150/08 – BVerfGE 124, 300 <320>)

[9] https://www.bverwg.de/130917U10C6.16.0 / Rn 29

[10] Der Gesamtvorgang wird ausführlicher dargestellt in: Helmut Suttor, Der kommunale BDS-Beschluss in Frankfurt: Chronik eines Verfassungsbruchshttps://www.frankfurter-info.org/news/der-kommunale-bds-beschluss-in-frankfurt

[10a] Uwe Becker: Was das fatale Urteil des Bundesverwaltungsgerichts konkret bedeutet, Jüdische Allgemeine 3.2.2022;  https://www.juedische-allgemeine.de/politik/bds-die-justiz-laeuft-der-realitaet-meilenweit-hinterher/

[10b] Prof. Sebastian Scheerer, Aufforderung zum Rechtsbruch, 14. Oktober 2021; https://verfassungsblog.de/aufforderung-zum-rechtsbruch/

[11] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/nasas.pdf?__blob=publicationFile&v=6

[12] S. 155 / FN 547: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/expertenkreis-antisemitismus/expertenbericht-antisemitismus-in-deutschland.pdf?__blob=publicationFile&v=8

[12a] https://risi.muenchen.de/risi/dokument/v/4717919

[12b] Glossar, BERICHTERSTATTUNG NAHOSTKONFLIKT ZUR INTERNEN NUTZUNG, STAND 18.10.2023; https://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/231027-Glossar_Berichterstattun-gNahostkonflikt.pdf

[13] http://helsut.de/2023/06/11/titania-gruppe-frankfurt/

[14] Nick Brauns, Deutscher Auslandssender weist seine Mitarbeiter zum richtigen Sprachgebrauch in bezug auf Nahostkonflikt an, 20.5.2021, https://www.jungewelt.de/artikel/402767.einseitige-berichterstattung-auf-linie.html

[15] Andreas Zumach hat den Fall ausführlich dokumentiert: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/012333.html; So werden in Deutschland Journalisten mundtot gemacht https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/012030.html

[16] https://www.ucc.org/synod-is-asked-as-matter-of-faith-to-reject-oppression-of-palestinians/

[17] Das Konzept entwickelte Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984 S. 458

[18] Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984 S. 458

Anlagen:

Anlage 1: Schema Meinungsfreiheit, Demokratieprinzip, Willkürverbot und Sachlichkeitsgebot

 

Anlage 2: Parlamentarische Anfrage Schulz an den Frankfurter Magistrat 28.1.2021


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