Es geht um ethnische Diskriminierung aus der Perspektive beider Konfliktparteien im Nahen Osten
In der Debatte um BDS ist bemerkenswert, dass von allen Teilnehmern eine Selbstverständlichkeit nicht berücksichtigt wurde. BDS ist eine zivilgesellschaftliche, international organisierte Bewegung, die ihren Ursprung im Nahostkonflikt hat. Deswegen sollte selbstverständlich ethnische Diskriminierung in dieser Konfliktregion gleichgewichtig in den Blick zu nehmen. Es sollte also nicht nur um israelbezogenen Antisemitismus sondern auch um palästinenserbezogenen Rassismus gehen.
Thematisiert wird aber, auch wenn es um BDS geht, nur Antisemitismus. Es geht allenfalls um konkurrierende Definitions-Varianten. Der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) [1] wurde die Jerusalem Declaration Antisemitismus (JDA) [2] gegenübergestellt. Die Autoren:innen der JDA nehmen dabei dabei den Begriff „Arbeitsdefinition“ ernst, der eine vorläufige, verbesserungsbedürftige, noch in Entwicklung befindliche Definition eines Sachverhaltes meint. Sie begreifen ihre Definition als Verbesserungsvorschlag, offensichtlich nicht wissend, dass die IHRA-Definition nach ihrer Verabschiedung 2016 nur noch eine Arbeitsdefinition auf dem Papier war (s.u.)
Die JDA berücksichtigt die palästinensische Konfliktperspektive mittelbar insofern, als sie einer politischen Instrumentalisierung insbesondere des Begriffs „israelbezogener Antisemitismus“ zu begegnen versucht. Dies ist im Rahmen eine Debatte zur Frage was antisemitisch ist und was nicht verdienstvoll, bleibt aber befangen im Rahmen einer ausschließlich auf Antisemitismus fokussierten Debatte. Die selbstverständliche und gleichrangige Thematisierung ethnischer Diskriminierung der Palästinenser im politischen Verantwortungsbereich des Staates Israel wird dadurch nicht geleistet. In dem Maße, in dem BDS in den Fokus der Antisemitismusdebatte rückt und der Begriff des „israelbezogenen Antisemitismus“ eine prominente Rolle spielt, sollte klar sein: Nicht nur Fragen wie Existenzrecht Israels als jüdischer Staat, Delegitimierung Israels durch Boykott etc. ist zu thematisieren, sondern auch Apartheid, ethnische Vertreibung und Landraub.
Anmerkungen zur IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus
Die ursprüngliche Intention eine international akzeptierte Antisemitismusdefinition auf den Weg zu bringen bestand darin, u.a. die Polizeiarbeit zu erleichtern durch Schaffung eines Definitions-Rahmens, der die Erfassung von Antisemitismus nach gemeinsam anerkannten Kriterien erlaubte. Kritik kam auf durch Versuche diese Arbeit so zu beeinflussen, dass Antisemitismus instrumentalisiert werden konnte zur Abwehr von Kritik an Israel. [3] Die IHRA-Defintion wurde 2016 in Bukarest von über 30 Staaten verabschiedet und in modifizierter Form in Deutschland offiziell eingeführt. Diese modifizierte, erweiterte Form hat das Bundeskabinett am 18.9.2017 „politisch indossiert“, d.h. die Definition wurde an alle Ressorts übermittelt „und somit für weiteres Handeln in der jeweiligen Ressortzuständigkeit (…) zur Verfügung gestellt“. Gleichzeitig sollen auch „andere definitorische Ansätze“ zur Anwendung kommen. „Zu diesen zählt insbesondere auch der umfassendere und differenzierte Ansatz des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus (UEA)“.[4]
Das Problem der politischen Instrumentalisierung ergibt sich insbesondere über den Begriff des „israelbezogenen Antisemitismus“. Dieser Begriff ist lt. UEA in einer „Grauzone“ angesiedelt. Eindeutigkeit ergebe sich, insofern Äußerungen Stereotype klassischen oder traditionellen Antisemitismus beigefügt sei. Unabhängig davon habe sich der UEA nicht einigen können. Nimmt man die elf Beispielsaussagen der IHRA-Definition in den Blick, ergibt sich: Neun enthalten Anleihen aus dem klassischen Antisemitismus. Die Beispielsaussage sieben (Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen) dient offensichtlich der Absicht, den Vorwurf des Rassismus bzw. der Apartheid als institutionalisierte Form von Rassismus und Diskriminierung bezogen auf Israel zu tabuisieren. In dem ein Staat als rassistisch bezeichnet wird, bestreitet man weder sein Existenzrecht und schon gar nicht das Recht auf Selbstbestimmung des zugehörigen Staatsvolkes. In der EUMC-Definitionsversion, [5] die der IHRA-Definition voraus ging, kam in dem entsprechenden Beispielsatz ein Bezug auf Rassismus überhaupt nicht vor. Offensichtlich hat man zur Steigerung des propagandistischen Nutzwertes eine in der Sache inkonsistente Aussage in Kauf genommen.
Zur Relevanz der IHRA-Definition in der öffentlichen Auseinandersetzung zu Antisemitismus.
In der alltäglichen Auseinandersetzung zu Antisemitismus wird die IHRA-Definition nicht selten von jenen ignoriert, die seine Annahme überall empfehlen. Die IHRA-Definition bestimmt ein methodisches Minimum zur Feststellung von Antisemitismus: Es muss eine konkrete Aussage vorliegen. Dies wird durch elf Beispielsaussagen illustriert. Diese ist sodann im „Gesamtzusammenhang“ zu interpretieren. Dieses jedem Sekundarschüler aus dem Deutschunterricht bekannte methodische Minimum spielt in der Praxis tagespolitischer Auseinandersetzungen keine Rolle. Am deutlichsten kommt dies zum Ausdruck, wenn Veranstaltungen schon im Voraus mit dem Vorwurf „israelbezogenen Antisemitismus“ zu befördern belegt werden, bevor also das erste Wort gesagt ist.[6] Ähnlich gelagert sind interne Sprachregelungen der öffentlich-rechtlichen Deutschen Welle zum Nahostkonflikt: „Wir verweisen niemals auf eine israelische ‚Apartheid‘ oder ein ‚Apartheidsregime‘ in Israel. Wir vermeiden es auch, von ‚Kolonialismus‘ oder ‚Kolonialisten‘ zu sprechen“.[7] Hier geht es nicht mehr um Kontextualisierung sondern um politische Vorgaben für jeden Kontext. Der Begriff des „israelbezogenen Antisemitismus“ wurde zur Allzweckwaffe zur Abwehr jeglicher Kritik an Israel. Uwe Becker verwendet ihn so, als wäre er eindeutig definiert und nicht überwiegend in einer Grauzone angesiedelt. Die inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffs begünstigt seine Verwendung als Instrument der politischen Propaganda.
Die bisherige Debatte war zu sehr fokussiert auf die Frage ob die auf dem Markt befindlichen Definition, geeignet sind, so wie sie auf dem Papier stehen. Sie berücksichtigt zu wenig oder überhaupt nicht, wie die Definitionen verwendet oder ignoriert werden, in einem vergifteten Debattenklima. Diese geschieht weitgehend unabhängig von dem was auf dem Papier steht. Eine Möglichkeit für dieses Thema zu sensiblisieren könnte darin bestehen, dass wissenschaftliche Berichte im Auftrag der Bundesregierung oder des Bundestages routinemäßig eine Rubrik über offensichtliche Missbräuche in der Auseinandersetzung um Antisemitismus enthalten. Den Antisemitismusbeauftragten kann man das nicht überlassen, da sie nicht selten die Hauptverantwortlichen für Missbräuche sind.
IHRA-Definition als Legitimationsfassade:
Das Problem der Definition ist die politische Instrumentalisierung. Das Problem ist nicht Ausformulierung eines international gemeinsamen Rahmens zur Erfassung von Antisemitismus für die Polizeiarbeit. Durch die politische Instrumentalisierung erhält die Tabuisierung von Kritik an Israel den Anschein von Wissenschaftlichkeit, die sich auf einen breiten internationalen Konsens stützen kann.
Dieser Anschein trügt.
Die IHRA-Definition ist nicht Ergebnis einer wissenschaftlichen Debatte, sondern eines zwischenstaatlichen, intransparenten Verhandlungsprozesses, bei dem geheim gehalten wurde und auf nicht absehbare Zeit gehalten werden muss, auf welchem Wege das Ergebnis 2016 in Bukarest zustande kam. Transparenz, wie es für ein wissenschaftliches Verfahren selbstverständlich wäre, ist aus politisch-diplomatischen Gründen nicht möglich.
„Im Falle eines Bekanntwerdens des Beschlussprotokolls vom 26.05.2016 in Bukarest besteht das Risiko nachteiliger Auswirkungen für eben diese auswärtigen Beziehungen. Die Protokolle der IHRA sind nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Für eine Veröffentlichung gibt es keinen Konsens der 34 Mitgliedstaaten. Zur Weiterführung der vertrauensvollen Zusammenarbeit sind alle Beteiligten wechselseitig auf die zuverlässige Wahrung der Vertraulichkeit angewiesen. Die Herausgabe dieser Angaben durch die Bundesrepublik Deutschland und die damit verbundene Offenbarung vertraulicher Details würden die auswärtigen Beziehungen zu diesen internationalen Partnern stark belasten und eine gewünschte offene und vertrauensvolle Zusammenarbeit und den Austausch von vertraulichen Argumenten erschweren.“
Aus demselben Grund wurde aus einer Arbeitsdefinition, die vorläufigen Charakter hat, weil sie sich im Prozess einer stetigen Weiterentwicklung befindet ein endgültiges Dokument.
„Die nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA ist keine Arbeitsdefinition in dem Sinne, dass an ihr fortlaufend gearbeitet würde (kein ‚work in progress‘). Die Definition ist ein Wegweiser für die Praxis für z.B. Lehrerinnen und Lehrer, die ein Instrument brauchen, um die vielfältigen Formen von Antisemitismus zu verstehen und ihnen nachzugehen (…) Eine Revision würde voraussetzen, dass es einen Konsens aller 34 Mitgliedstaaten der IHRA darüber gäbe a) die Definition zu verändern und b) dieser Änderung zuzustimmen. Beides ist nicht vorhanden.“
(Frau Gabriele Graf im Auswärtigen Amt zuständig für die IHRA-Definition in einer Mail vom 25.3.2021)
Mit anderen Worten: Die IHRA-Arbeitsdefinition ist de facto keine mehr, wird aber noch als solche von der IHRA verkauft, obwohl sie endgültigen Charakter hat. Dies nicht, weil wissenschaftlich eine begrifflich fundierte Definition erreicht wurde, sondern weil über Änderungen keine diplomatische Einigung zwischen den Unterzeichnern der Definition herbeigeführt werden kann. Der Prozess der Weiterentwicklung wurde also aus nicht-wissenschaftlichen Gründen abgebrochen. Das wird aber verschleiert, in dem man durch das Festhalten an der Bezeichnung „Arbeitsdefinition“ suggeriert, man befinde sich noch auf der Suche nach einer erschöpfenden Definition.
Wissenschaftlichkeit i.S. eines an Wahrheit und Erkenntnis orientierten Bemühens kann auch deswegen nicht im Vordergrund gestanden haben, weil dies im Geiste von Wilhelm von Humboldt und nach dem Verständnis des Grundgesetzes eine „Autonomie der Wissenschaft“ voraussetzt, der Staat dabei auf „wertneutrale Wissenschaftspflege des Staates“ (BVerfGE 35, 79, 114) i.S. der Gewährleistung von geeigneten Rahmenbedingungen beschränkt bleibt. Im Fall der IHRA-Definition gibt die Politik auch inhaltlich den Ton an und nicht die Wissenschaftler, die in beratender Funktion zugegen waren.
Die in Deutschland verwendete IHRA-Definition stützt sich nicht auf einen breiten internationalen Konsens. Sie wurde in einer den politischen Missbrauch begünstigenden Weise erweitert.
Die deutsche Definition ergänzt die aus zwei Sätzen bestehende Bukarester Kerndefinition durch einen dritten Satz:
„Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Dieser Zusatz ist sinngemäß einer Erläuterung entnommen, die im Anschluss an die Bukarester Kerndefinition und vor Auflistung der Beispielsätze platziert wurde. Der nächste Satz dieser Erläuterung lautet:
Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden“.
Hier wurde offensichtlich auseinandergerissen was zusammengehört. Durch das Adverb „allerdings“ kommt der inhaltliche Zusammenhang zum vorhergehenden Satz klar zum Ausdruck. Hier von einer ziemlich plumpen Manipulation zu sprechen erscheint angemessen. Was politisch passt i.S. einer Verwendung des Begriffs „israelbezogener Antisemitismus“ als Allzweckwaffe wird in die deutsche Kerndefinition gehoben. Was diese politische Instrumentalisierung einschränken könnte, wird weggelassen.
[1] Arbeitsdefinition von Antisemitismus, https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus
[2] DIE JERUSALEMER ERKLÄRUNG ZUM ANTISEMITISMUS, https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch_final.pdf
[3] So Kenneth Stern, der an dem Projekt einer international abgestimmten Antisemitismus-Definition in der ersten Phase federführend beteiligt war und ausstieg, als er merkte das Projekt werde politisch instrumentalisiert:“I drafted the definition of antisemitism. Rightwing Jews are weaponizing it”, The Guardian, 13.12.2019, https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/dec/13/antisemitism-executive-order-trump-chilling-effect
[4] https://kleineanfragen.de/bundestag/19/2808-personelle-ausstattung-des-beauftragten-der-bundesregierung-fuer-juedisches-leben-in-deutschland-und-den-kampf.txt
[5] Bei EUMC lautet der Beispielsatz: “Doing activities that may lead to cropping of ideas preventing the Jewish people from independence and self-determination in regards to any socio-economic activities; https://www.antisem.eu/eumc-arbeitsdefinition-antisemitismus/
[6] Der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker zwei Veranstaltungen auf offiziellen Internetseiten vorab in diffamierender Weise diskreditiert: „Meinungsfreiheit statt Zensur“, http://www.frankfurt-live.com/inakzeptabel-f-uumlr-frankfurt-116196.html; „Apartheid auch in Israel – nicht nur in den besetzten Gebieten?“, https://staatskanzlei.hessen.de/presse/scharfe-kritik-an-veranstaltung-in-frankfurt
[7] https://www.jungewelt.de/artikel/402767.einseitige-berichterstattung-auf-linie.html