Der Staat Israel ist der mächtigste im Nahen Osten. Die Existenzmöglichkeit eines selbstständigen und lebensfähigen palästinensischen Staates von unterschiedlichen israelischen Regierung systematisch untergraben. Dies wird praktisch umgesetzt einerseits durch die Verdrängung / Vertreibung der palästinensischen Restbevölkerung insbesondere in den von Israel verwalteten sog. C-Gebieten der Westbank. Andererseits durch die Nach Ansicht der meisten Experten:innen existieren deswegen realpolitisch die Voraussetzungen einer Friedensregelung i.S. der Zweistaatenlösung schon seit geraumer Zeit nicht mehr.
Bei der sog. „Siedlungspolitik“ geht es um ein völkerrechtswidriges Unterfangen mit der politischen Absicht, die Annexion der Westbank zu betreiben bei gleichzeitiger Zerstörung der Voraussetzung für die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates. Dies geschieht durch die Verdrängung / Vertreibung der palästinensischen Restbevölkerung insbesondere in den von Israel voll kontrollierten C-Gebieten und durch die politische Fragmentierung des Westbank-Territorium mit dem Ziel, ein zusammenhängendes palästinensischen Staatsgebiet zu verhindern.
Die faktische Zerstörung der Existenzvoraussetzungen eines palästinensischen Staates steht einer allenfalls behaupteten rhetorischen Infragestellung des realexistierenden israelischen Staates gegenüber. Schon ein Blick auf die Landkarte macht dies klar. Man muss kein Nahostexperte sein.
Dennoch kommt in der öffentlichen Auseinandersetzung in Deutschland dem Existenzrecht Israels eine ungleich prominentere Rolle zu als dem Existenzrecht des nicht real existierenden palästinensischen Staates.
Das Bestreiten des Existenzrecht Israels durch die Palästinenser (einschließlich BDS) wird gemeinhin abgeleitet aus deren Weigerung Israels als jüdischen Staat anzuerkennen.
Wie sich der jüdische Staat aus palästinensischer Sicht darstellt, wird dabei ausgeblendet – zwei Beispiele aus jüngerer Zeit sind geeignet dies zu verdeutlichen:
- Das israelische Nationalstaatsgesetzes vom 19. Juli 2018 bestimmt u.a. die Abschaffung von Arabisch als zweiter Amtssprache, die Festschreibung des völkerrechtswidrigen und auf die Vertreibung der Palästinenser abzielenden jüdischen Siedlungsbaus als „nationalen Wert“, Jerusalem einschließlich Ostjerusalems als Hauptstadt des Staates und die Möglichkeit der Einwanderung von im Ausland lebenden Nicht-Staatsbürgern jüdischer Herkunft, eine Möglichkeit die Palästinensern die bis 1948 im Staatsgebiet Israels lebten verweigert wird. [1]
- Das neue Staatsbürgerchaftsgesetz vom 10. März 2022 „definiert Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe als Sicherheitsrisiko und ermöglicht es der Regierung, eine Bevölkerungspolitik zu verfolgen, die darauf abzielt, die jüdische Mehrheit zu bewahren. Israelischen palästinensischen Bürgern wird das Recht verweigert, nach ihrer Wahl zu heiraten und mit ihrer Familie vereint zu leben“. [2]
Der Staat Israel war nie ein Staat „aller seiner Bürger“. Die politische Absicht dieses Versprechen aus der Unabhängigkeitserklärung einzulösen bestand von Anfang an nicht. Diese Versprechen war ein rhetorisches, außenpolitischen Notwendigkeiten geschuldetes Zugeständnis, das vor dem Hintergrund der UN-Teilungserklärung vom 29. November 1947 [Resolution 181 (II)]gemacht werden musste. Diese Resolution sah u.a. für beide Staaten demokratische Verfassungen vor, Respektierung der Menschen- und Bürgerrechte und vor allem den Schutz der jeweiligen nationalen und der religiösen Minderheiten.
Moses Smoira, Präsident des Obersten Gerichtshofs Israels von 1948 bis 1954 verwarf die Idee, die Unabhängigkeitserklärung habe einen verfassungsrechtlichen Status und könne deswegen als normative Grundlage für Grundrechte oder -freiheiten dienen.
„…der einzige Zweck der Unabhängigkeitserklärung war es, die Grundlagen und die Errichtung des Staates zu bekräftigen, um seine Anerkennung durch das Völkerrecht zu ermöglichen. Sie [die Erklärung] bringt die Vision des Volkes und seinen Glauben zum Ausdruck, aber sie enthält kein verfassungsrechtliches Element, das die Gültigkeit verschiedener Verordnungen und Gesetze oder deren Aufhebung bestimmt„. [3]
Die sich aus der UN-Teilungserklärung ergebende Konsequenz , eine Verfassung zu verabschieden, die den Grundsatz der Gleichberechtigung mit Verfassungsrang verankert, wurde aus wohl erwogenen politischen Gründen nie umgesetzt. Die an den Palästinensern begangenen Verbrechen der Vertreibung, Ausbürgerung und Enteignung von ca. 750.000 palästinensischen „Bürgern“ wären im Rahmen einer demokratischen, die Gleichberechtigung auch der palästinensischen Minderheit gewährleistenden Verfassung nicht zu bewältigen gewesen. Die Verabschiedung einer demokratischen Verfassung wurde in erster Linie von der politischen und militärischen Elite verhindert, in zweiter Linie und aus anderen Gründen durch die national-religiösen Eliten. Die durch die Verbrechen im Krieg 1947/48 geschaffenen Fakten (Vertreibung, Enteignung etc. ) mussten rechtlich abgesichert werden. Dies geschah zunächst durch Notverordnungen, die später in Gesetze überführt wurden. Die meisten Regelungen der „Sicherheits- und Notstandsgesetzgebung“ sind heute noch in Kraft, sie wurden nicht nur in „Kriegs- und Konfliktzeiten“ angewandt, sie wurden vielmehr
„zu einem Routineinstrument der israelischen Regierung für die Durchführung spezifischer Politiken, die – auf Kosten der grundlegendsten Menschenrechte und Freiheiten des einheimischen palästinensisch-arabischen Volkes – in erster Linie jüdische nationale Interessen fördern.“ [4]
Wenn Ministerpräsident Netanyahu im März 2019 das Versprechen aus der Gründungserklärung Israels offiziell und öffentlich widerrief („Israel ist nicht der Staat aller seiner Bürger… [sondern] der Nationalstaat des jüdischen Volkes und nur dieses„), stellte er nur klar, was Israel als jüdischer Staat seit seiner Gründung war: Ein Staat in dem die Palästinenser Bürger zweiter Klasse sind.
Die eine Ablehnung des Jüdischen Staates begründenden Argumente der Palästinenser einschließlich BDS werden oft nicht einmal angeführt. Angeführt wird, wie die Kritiker die palästinensischen Begründungen und Forderungen interpretieren. Die Ausblendung der palästinensischen Konfliktperspektive ist ein Charakteristikum der offiziösen Nahost- und BDS-Diskussion in Deutschland. Elementarste Grundsätze einer an objektivem Erkenntnissinteresse orientierten Debatte werden außer Acht gelassen: Dass die beteiligten Konfliktparteien gleichberechtigt zu Wort kommen. Das Recht zur Thematisierung palästinensischer Sichtweisen musste durch ein Bundesverwaltungsgerichtsurteil durchgesetzt werden.
Wer den Palästinensern die Anerkennung des Existenzrechts Israels als jüdischer Staat abverlangt, sollte begründen können, dass sie als Minderheit in diesem Staat nicht Bürger zweiter Klasse sind. Andernfalls ist davon auszugehen, dass man die Palästinenser als eine ethnische Gruppe eingeordnet werden, denen ein inferiorer Status zugemutet werden darf.
Das aber wäre gleichbedeutend mit Rassismus.
[1] Peter Lintl / Stefan Wolfrum: Israels Nationalstaatsgesetz. Die Regierung Netanyahu schafft Grundlagen für ein majoritäres System; https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2018A50_ltl_wlf.pdf
[2] Israel verabschiedet das rassistische Staatsbürgerschaftsgesetz, https://bip-jetzt.de/2022/03/19/bip-aktuell-210-staat-aller-seiner-burger/
[3] Karimi-Schmidt Yvonne, Foundations of civil and political rights in Israel and the occupied territories, Kap. B 3.2.1.1., FN 126-129; https://www.academia.edu/1967765/Foundations_of_civil_and_political_rights_in_Israel_and_the_occupied_territories
[4] Karimi-Schmidt Yvonne, Foundations of civil and political rights in Israel and the occupied territories, Kap. G 2.1.; https://www.academia.edu/1967765/Foundations_of_civil_and_political_rights_in_Israel_and_the_occupied_territories