Offener Brief an die Mitglieder des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit
Sehr geehrte Frau Karima Benbrahim,
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Rohe,
Sehr geehrte Mitglieder des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit
Wir wenden uns an Sie wegen Ihres Berichts „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023“. Wir vermissen in diesem Bericht die Verarbeitung eines Sachverhalts ohne dessen Berücksichtigung von einer „Bilanz“ zur Muslimfeindlichkeit in Deutschland aus unserer Sicht nicht die Rede sein kann, jedenfalls wenn man darunter die Erfassung aller wesentliche Elemente dieses Phänomens versteht.
In Deutschland wurden nach dem September 2017 kommunale BDS-Beschlüsse gefasst. 2019 kam der BDS-Bundestagsbeschluss hinzu. Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 8 C 35.20 / 20. Januar 2022) schränken die kommunalen Beschlüsse u.a. das Recht auf Meinungsfreiheit in verfassungswidriger Weise ein. Der rechtlich anders gelagerte BDS-Bundestagsbeschluss fordert mindestens zu verfassungswidrigem Verhalten auf, weil der die Kommunen zur Umsetzung ihrer Beschlüsse anhält.
Die Verfassungswidrigkeit dieser Beschlüsse war von Anfang an erkennbar. Zu Art. 5 GG (Meinungsfreiheit) gibt es eine seit Jahrzehnten geklärte Rechtslage. Das BVerwG hat diese in seinem Urteil im Wesentlichen wiederholt. Entsprechendes Erkenntnisinteresse vorausgesetzt, wäre die Verletzung von Grundrechten über eine Zeitraum von vier Jahren also ohne Weiteres vermeidbar gewesen.
Wir sind eine Bürgerinitiative in Frankfurt / Main (Titania-Gruppe). Nach 2019 beschäftigten wir uns u.a. mit der Rechtmäßigkeit des Frankfurter BDS-Beschlusses. Für Frankfurt lässt sich nachweisen, der damals zuständige Dezernent Uwe Becker (immer noch Antisemitismusbeauftragter Hessens) setzte den kommunalen Beschluss um, in Kenntnis seiner Verfassungswidrigkeit.
Wir möchten konkretisieren, wieso wir die Behandlung der Einschränkung der Meinungsfreiheit im Kontext der BDS-Beschlüsse in einem Bericht zur Muslimfeindlichkeit für zwingend geboten erachten:
Dass von dieser Grundrechtseinschränkung in erster Linie Muslime betroffen sind, ist klar. Sie empfinden dies als eine zusätzliche Verschärfung ihrer allgemeinen Diskriminierung, u.a. weil, wie Sie in Ihrem Bericht schreiben, in migrantisch-muslimischen Milieus die Solidarität mit den Palästinenser*innen weit verbreitet ist.
Programmatisch heisst es in Ihrem Bericht: „Auftrag und Lebensgrundlage des demokratischen Rechtsstaats“ manifestiere sich in „gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen am demokratischen Rechtsstaat“, dies sei „dessen zentraler Auftrag und eine weitgehend geteilte Erwartung in Gesellschaft und staatlichen Institutionen.“ Ist das glaubwürdig, wenn man einen Bericht über Diskriminierung von Muslimen schreibt und dabei „übersieht“, dass deren Grundrechte über Jahre in verfassungswidriger Weise eingeschränkt wurden?
Es gibt bundesweit Programme, um insbesondere Jugendliche aus migrantisch-muslimischen Milieus für die Werte unserer Verfassung zu gewinnen. Gleichzeitig wurde diese Zielgruppe mit verfassungswidrigen Praktiken bekämpft. Selbst wenn der Verfassungsbruch vorsätzlich erfolgt, wie im Fall Becker beweisbar klar belegt, bleibt dies ohne irgendeine Konsequenz. Stärkt dies den Rechtsstaat?
Sie sprechen in Ihrem Bericht von „interreligiösen Dialog“. Ein Dialog, der diesen Namen verdient, setzt die gleichberechtigte Teilnahme aller voraus. Mit eingeschränkter Meinungsfreiheit ist dies nicht zu realisieren.
Die staatliche Beteiligung an der Diskriminierung von Muslimen beschränkt sich nicht auf „behördliche Praktiken“ nachgeordneter Ebenen, wie sie in Ihrem „Wirkungsmodell Muslimfeindlichkeit“ (Abb 1.1 / S. 20) nahelegen. Die Diskriminierung wurde im Staatsauftrag gefördert und umgesetzt und zwar auf allen Ebenen: Bund, Länder und Kommunen.
Ein unabhängiges, sich wissenschaftlich verstehendes Gremium sollte dies thematisieren. Leider haben Sie das sachlich Gebotene und Naheliegende nicht getan.
Uns würde interessieren, wie Sie das begründen und sehen Ihrer Antwort mit Interesse entgegen.
Freundliche Grüße
Hasan Alzaanin, (Palästinensische Gemeinde Frankfurt),
Wieland Hoban (Vorsitzender der Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost),
Herbert Kramm-Abendroth, Helmut Suttor (Titania-Gruppe Frankfurt),
Björn Luley, Leiter verschiedener Goethe-Institute i.R.,
Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Helmut Suttor, Laubestr. 6, 60594 Frankfurt
Eine Antwort zu “Bemerkenswerte Defizite: Der Bericht „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023“”
Sehr gut pointiert formuliert!