Offener Brief an Oberbürgermeister Dieter Reiter / München


Auf der Suche nach der Münchner Meinungsfreiheit

BDS-Beschluss, Roger Waters usw:

OB Reiter sucht den Ausweg am falschen Ende der Sackgasse, in die er reingelaufen ist

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reiter,

Nach all den sich über vier Jahre hinziehenden Auseinandersetzungen zum kommunalen BDS-Beschluss des Münchner Stadtrats vom Dezember 2017 und der öffentlichen Kakophonie der letzten Wochen um den Auftritt von Roger Waters, ist es Ihnen immer noch nicht gelungen, sich den Wesensgehalt des Grundrechts auf Meinungsfreiheit anzueignen.

Sie versuchen der Öffentlichkeit immer noch weiszumachen, es könne eine Möglichkeit geben das Urteil des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zum BDS-Beschluss des Münchner Stadtrats vom 20.1.2022 zu umgehen. Dies suggerierten Sie bereits in Ihrer Pressemitteilung dazu:  „Mein Appell geht deshalb an die Bayerische Staatsregierung und an den Bund, noch einmal unverzüglich zu prüfen, ob eine vom Gericht angemahnte gesetzliche Grundlage geschaffen werden kann – zum Beispiel auf Ebene des Freistaats durch eine Ergänzung der Bayerischen Gemeindeordnung.“

Das BVerwG hat keine gesetzliche Grundlage angemahnt, sondern zu verstehen gegeben, dass es eine solche nicht geben kann. Der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages hat die Rechtslage in einem vom Antisemitismusbeauftragten Felix Klein angeregten Gutachten schon ein Jahr zuvor (21.12.2020) ausführlicher und expliziter dargelegt: Grundrechte dürfen nur durch allgemeine Gesetze eingeschränkt werden. Allgemeine Gesetze sind per Definition meinungsneutral. Ein Gesetz gegen BDS würde sich gegen eine bestimmte Meinung richten, wäre demnach kein allgemeines Gesetz und damit verfassungswidrig.

Im Fall Waters, ein ganzes Jahr später, kommen Sie erneut mit der Schnapsidee einer vom BVerwG „angemahnten“  gesetzlichen Grundlage um die Ecke (vgl. u.a. Stadtratsvollversammlung [StRVV] vom 22.3.2023/1.06.40 ff). Mit Hilfe der „bayerischen Staatsregierung“ solle Abhilfe geschaffen werden in Form einer „gesetzlichen Grundlage (…) damit Kommunen in ähnlich gelagerten Fällen Auftritte verbieten können“. Es sei zu klären ob eine „abstraktgenerelle Regelung (StRVV/2.06.30) gefunden werden könne, um Verträge städtischer Einrichtungen schon im Vorfeld ggf. zu verhindern. Die hier zu klärenden rechtlichen Fragen hätten, professionelles und verfassungsgemäßes Regierungshandeln vorausgesetzt, vor Beschlussfassung spätestens aber vor Umsetzung des BDS-Beschlusses 2017 geklärt sein müssen. Die Rechtmäßigkeit amtlicher Handlungen ist vorab zu prüfen. Nach nunmehr fünf Jahren und einem höchstrichterlichen Urteil sehen Sie immer noch keine klare Rechtslage.

Dazu ist folgendes zu sagen:  

  • Erstens: Unser Rechtssystem funktioniert nicht nach dem Motto „Bayrisches Landrecht bricht Bundesrecht“. Grundgesetz und damit die Grundrechte sind immer noch Bundesrecht. Beides ist nicht durch die bayerische Gemeindeordnung aus den Angeln zu heben. Es geht nicht darum eine „abstraktgenerelle Regelung“ aus dem Hut zu zaubern. Das Urteil des BVerwG stellt vielmehr die Aufgabe eine gewisse Abstraktionsleistung zu erbringen um dieses auf analog gelagerte Fälle anzuwenden. Diese Übung ist bisher nicht gelungen.
  • Zweitens: Das Problem mit der vom BVerwG angeblich „angemahnte gesetzliche Grundlage“ wollten Sie schon vor einem Jahr mit der Bayerischen Staatsregierung klären. Was haben Sie praktisch unternommen und was ist denn dabei herausgekommen? Oder halten Sie es mit dem Hessischen Antisemitismusbeauftragten Uwe Becker, der in regelmäßigen Abständen ein Verbot von BDS zu betreiben verspricht, ohne dass von konkreten Umsetzungsschritten jemals etwas in Erfahrung zu bringen war?
  • Drittens: Sie lassen den Respekt vor einem höchstrichterlichen Urteil vermissen, wenn Sie suggerieren, es gäbe noch eine Möglichkeit dieses zu umgehen. Verantwortungsbewusstsein und Professionalität eines Amtsträgers sollte sich darin manifestieren, dass er sich vor öffentlichen Äußerungen kundig macht. Die wiederholte öffentliche Erörterung unausgegorener juristischer Ideen schafft kein Vertrauen.
  • Viertens: Mit Ihrem Festhalten an einer inexistenten, fiktiven juristischen Möglichkeit, setzen Sie sich dem Verdacht aus, von eigenem Versagen ablenken zu wollen. Wenn der BDS-Beschluss nur deswegen scheiterte, weil andere (Bund oder Freistaat Bayern) ihre Hausaufgaben nicht erledigten, sind Sie letztlich nicht verantwortlich. Demgegenüber ist festzuhalten: Ein solches Gesetz kann es nicht geben.  Dies war vor Beschlussfassung in München im Dezember 2017 klar. Andere haben das auch erkannt. Sie nicht. Davon sollten Sie nicht ablenken. Beim Thema Meinungsfreiheit verharren Sie seit fünf Jahren im Zustand selbstverschuldeter Unmündigkeit. Ob dieser Zustand simuliert oder echt ist, wissen nur Sie allein.

Nach dem Urteil des BVerwG müssen Sie sich vorhalten lassen: Sie haben über vier Jahre in verfassungswidriger Weise Grundrechte (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Gleichheitsgrundsatz) verletzt und eingeschränkt. Dies ist nicht nur relevant unter dem rechtlichen Gesichtspunkt. Damit schadeten Sie auch dem Anliegen, um das es vorgeblich gehen sollte, für das Sie so vollmundig einzutreten pflegen: Der Bekämpfung des Antisemitismus. Dieses kann nur im Einklang mit der Verfassung und nicht im Widerspruch zu ihr in nachhaltiger Weise verfolgt werden, d.h. mit der Aussicht die Bevölkerungsmehrheit zu überzeugen. Diese ist nämlich immer noch rechtstreu. Diesen simplen Zusammenhang haben Sie offensichtlich übersehen. Ihre Äußerungen zu Waters sprechen leider dafür, dass sich durch das Urteil des BVerwG daran nichts geändert hat.

Mit Ihrem bisherigen Verhalten zum kommunalen BDS-Beschluss, wie auch jetzt im Fall Roger Waters, scheinen Sie sich auf einer politischen Mission zu wähnen, bei der es gestattet ist Recht und Regeln, politisch-professionelles Verhalten wie auch moralische Gesichtspunkte außer Acht zu lassen, weil es um eine vermeintlich gute Sache geht.

Die von Ihnen beim BDS-Beschluss angewendeten Verfahren orientierten sich an politisch erwünschten Ergebnissen. Ein an Wahrheit und Objektivität orientiertes Erkenntnisinteresse kam dabei nicht zum Ausdruck.  

  • Korrektes Verwaltungshandeln hätte zunächst darin bestanden, rechtlichen Rat einzuholen und zu beachten – vor Beschlussfassung. Die Rechtsmaterie zu „Meinungsfreiheit“ ist seit Jahrzehnten geklärt. Das BVerwG hat im Wesentlichen wiederholt, was sich auch aus anderen Urteilen ergab. Amtsträger haben ich vor Implementierung von Verwaltungsakten über deren Vereinbarkeit mit Recht und Gesetz zu vergewissern. Dafür haben Sie einen Amtseid geleistet. Gegen diesen haben Sie verstoßen – über Jahre. Im Fall Waters haben Sie ausweislich der o.g. Stadtratsvollversammlung Rechtsgutachten mit für Sie negativen Ergebnis eingeholt. Bezüglich des sehr viel gewichtigeren BDS-Beschlusses stellt sich die Frage: Gab es auch hier Rechtsgutachten vor Beschluss-Fassung? Sollte es diese gegeben haben, können diese kaum i.S. einer Befürwortung des BDS-Beschlusses ausgefallen sein. Andernfalls müsste man unterstellen, Ihren Juristen ist die höchstrichterlich geklärte Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit nicht bekannt. Oder haben Sie „vorsichtshalber“ keinen juristischen Rat eingeholt bzw.  diesen verworfen, weil er politisch inopportun ausgefallen ist?
  • Erkenntnisorientiertes politisch-professionelles Verhalten hätte zwingend nahegelegt, mit der sachlich-politischen Begründung des BDS-Beschluss unabhängige Experten zu beauftragen und nicht weisungsabhängige, fachlich überforderte Kommunalbeamte. Das Ergebnis war ein aus dem Internet zusammengestümperter, nicht einmal proseminarfähiger Begründungstext, dem Ihr eigenes Kulturreferat in einer Stellungnahme drei Wochen vor Beschlussfassung auf einer DIN-A-4 Seite ein vernichtendes Urteil ausstellte: Dort heißt es u.a.: Der Nahostkonflikt werde analysiert, als gebe es dort nur eine Konfliktpartei, nämlich die israelische. Es fehle das „multiperspektivische Element“. Die Konfliktperspektive der Palästinenser wurde also gar nicht erst in den Blick genommen. Außerdem: Durch den BDS-Beschluss würde schon die Befassung mit „nahezu allen Themenfelder des Nahostkonflikts“ diskreditiert.

Sie haben es nicht nur vermieden externen Rat einzuholen, sie haben außerdem internen Rat in den Wind geschlagen, um Ihre Mission nicht zu gefährden. Sie schlossen schon auf der Verfahrensebene das Risiko politisch unerwünschter Ergebnisse möglichst aus. Dort wo diese dennoch auftraten (siehe Stellungnahme des Kulturreferat), haben Sie selbstherrlich dafür gesorgt „Fehler“ auszumerzen.

Ihr Verhalten war nicht nur unprofessionell, es war auch moralisch verwerflich.

In München wurden Bürger:innen der Stadt, für die Sie als Oberbürgermeister Verantwortung tragen in die antisemitische Ecke gestellt. Bei einem derartigen Vorwurf ist angesichts seiner Prangerwirkung mit Rufmordcharakter besondere Sorgfalt geboten. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Streitfall zwischen Privatpersonen (der Publikation CICAD vs. Schweizer Universitätsprofessor) betont. Der EGMR bewertete den nach seiner Einschätzung „nicht besonders harten“ Antisemitismusvorwurf von CICAD  (»bestimmte seiner [des Universitätsprofessors] Äußerungen gleiten geradewegs ins Antisemitische ab“)  dennoch als einen unzulässigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, aus dem genannten Grund.

Sie sind keine Privatperson, sondern als Oberbürgermeister höchster Amtsträger der bayerischen Landeshauptstadt München. Im Kontext des BDS-Beschlusses ebenso, wie jetzt im Fall Roger Waters waren Sie weit davon entfernt dasjenige Maß an Sorgfalt bei öffentlichen Äußerungen und amtlichen Verlautbarungen an den Tag zu legen, dass der EGMR von Privatpersonen für unerlässlich hält. Von den Grenzen der Äußerungsbefugnis eines Amtsträgers, der sich u.a. am Sachlichkeitsprinzip zu orientieren hat, sich bei öffentlichen Äußerungen eine gewisse Zurückhaltung auferlegen sollte, scheinen Sie nicht angekränkelt zu sein.

Sie haben mutwillig oder mindestens in grob fahrlässiger Weise Persönlichkeitsrechte Münchner Bürger:innen verletzt. Betroffen davon war insbesondere die palästinensische Gemeinde Münchens. Betroffen waren außerdem Münchner:innen jüdischer Herkunft, darunter Personen, die Angehörige im Holocaust verloren haben.

In München musste das Recht auf freie Meinungsäußerung gegen die Vertreter:innen der Stadtpolitik durchgesetzt werden. Dem Rentner Klaus Ried und der kleinen ihn unterstützenden Gruppe ist die Durchsetzung der Meinungsfreiheit zu verdanken. Abgesehen von der Justiz haben alle anderen in unserer Verfassung zu deren Verteidigung vorgesehenen Instanzen auf kommunaler Ebene versagt: Parlament, politische Parteien und Medien. Diejenigen, für die Verfassung eintreten sollten bildeten ein Bündnis kollektiver Verantwortungslosigkeit zur Durch- und Umsetzung des BDS-Beschlusses.  Auch dies ist ganz wesentlich Ihr Verdienst.

Worum es jetzt und nach alledem zu gehen hätte scheint klar:

Um die Klärung der Frage, wie eine Bekämpfung des Antisemitismus und anderer Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf verfassungsmäßiger Grundlage auszusehen hat. Mit dem Urteil des BVerwG ist der Rahmen vorgegeben für Meinungsfreiheit und zivilgesellschaftlichen Dialog. Dieser ist im Einklang mit dem Grundgesetz zu gestalten. Der Zivilgesellschaft kommt bei der Ächtung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit eine zentrale Rolle zu, wie das Bundesverfassungsgericht verschiedentlich betonte.

Das Grundgesetz „vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien (BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009 – 1 BvR 2150/08 – BVerfGE 124, 300 <320>).“

Zivilgesellschaftliche Willensbildung hat sich gemäß dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) von „unten nach oben“, d.h. „staatsfrei“ zu vollziehen (BVerwG-Urteil vom 13.9.2017 / RN 28/29). Dazu passen keine Verbote, dazu passen auch keine herabsetzenden Meinungsbekundungen, wie sie von Ihnen gegen Waters bekannt sind

Einem Amtsträger in Wahrnehmung seiner hoheitlichen Funktion ist deshalb eine lenkende oder steuernde Einflussnahme auf den politischen Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung verwehrt (…) Staatliche Amtsträger dürfen ferner in der öffentlichen Diskussion Vertreter anderer Meinungen weder ausgrenzen noch gezielt diskreditieren, solange deren Positionen die für alle geltenden rechtlichen Grenzen nicht überschreiten, namentlich nicht die allgemeinen Strafgesetze verletzen.“

Da Sie als Gegenveranstaltung zu Waters eine symbolische Aktion zu planen scheinen (Beflaggung Münchens etc.) scheint ein Hinweis angebracht. Ohne die Unterlegung solcher symbolischer Handlungen mit sachlichen Argumenten sind diese rechtswidrig:

Ein Amtswalter, der am politischen Diskurs teilnimmt, hat deshalb seine Äußerungen an dem Gebot eines rationalen und sachlichen Diskurses auszurichten. Das schließt eine Meinungskundgabe durch symbolische Handlungen nicht aus, fordert aber den Austausch rationaler Argumente, die die Ebene argumentativer Auseinandersetzung nicht verlassen.“

Sollten Ihre Beflaggungsaktion ergänzt werden durch „Begründungen“ von Antisemitismus auf dem Stammtisch-Niveau der oben erwähnten Stadtratsdebatte, könnte es sein, dass dies vor Gericht als nicht ganz ausreichend eingeordnet wird. Vor Gericht werden Beweisgründe erwartet. Antisemitismus ohne Begründung nur zu behaupten, wird kaum Bestand haben, auch wenn dies im Münchner Stadtrat zur Gewohnheit geworden sein mag.  

Wenn man über einen Zeitraum von vier Jahren in Sachen Antisemitismusbekämpfung in eine Sackgasse reingelaufen ist, sollte man vielleicht eine Phase der Selbstreflektion einlegen. Jedenfalls ist man dann nicht in der Position anderen beim Thema Antisemitismus Orientierung zu offerieren. Je länger man in eine Sackgasse reinläuft, desto länger ist der Weg zurück. Sackgassen sind nur von einem Ende her zugänglich. Sie scheinen immer noch den Ausweg am falschen Ende zu suchen, dort wo es keinen geben kann.

Nicht die „abstraktgenerelle Regelung“ ist hier die Lösung, sondern der Marsch zurück zum zugänglichen Ende der Sackgasse.

Mit freundlichen Grüßen

Helmut Suttor

PS: Dieser Brief geht an die Stadtratsmitglieder Münchens, die Münchner Presse und zivilgesellschaftliche Organisationen Münchens und an viele Einzelpersonen, die interessiert sein könnten


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