Sehr geehrte Damen und Herrn von der SPD Hessen: Landtagsfraktion und andere Mitglieder,
zu zweiten Mal innerhalb weniger Tage inszeniert die BILD-Zeitung einen Antisemitismus-Skandal, der von einer Person mit Migrationshintergrund ausgelöst worden sein soll. Nach dem dunkelhäutigen KiKa-Moderator Matondo Castlo ist jetzt Mohamed Baaqoul an der Reihe, Juso-Vorsitzender der SPD in Rüsselsheim mit offensichtlich muslimisch-arabischen Familienhintergrund. Baaqoul wird ein Vorwurf mit maximaler Prangerwirkung vorgehalten: Er habe Israel-Hetze betrieben, weil er Israel als Apartheidsstaat bezeichnet und sich somit antisemitisch geäußert habe.
Soweit die Äußerungen Mohamed Baaqoul bekannt sind, bewegen sie sich im Rahmen dessen, was in den letzten eineinhalb Jahren insgesamt sechs renommierte Organisationen in ausführlichen wissenschaftlichen Untersuchungs-Berichten zur Apartheid in den von Israel beherrschten Gebieten festgestellt haben. Diese sehen den Tatbestand der Apartheid erfüllt, entweder für Israel-Palästina insgesamt (BTselem und Amnesty International) oder beschränkt auf die besetzten Gebiete (Human Rights Watch, Yesh Din, der UN-Menschenrechtsrat und die IHRC Harvard Law School).
Apartheid nahm zwar ihren Ausgang in Südafrika, wurde aber zu einem allgemeineren Rechtsbegriff des Völkerrechts i.S. einer institutionalisierten Form der Rassendiskriminierung weiterentwickelt. Deswegen ist es unangemessen den Tatbestand allein an den Manifestationen von Apartheid in Südafrika von 1948 bis 1994 zu messen. Die Gültigkeit der in den genannten Berichten dargelegten Befunde ist an dem Maßstab zu messen, der sich aus den relevanten völkerrechtlichen Rechtsquellen ergibt: Der Rassendiskriminierungskonvention (ICERD) von 1965, der Anti-Apartheidkonvention von 1974 und aus Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) von 1998.
Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Vereinbarungen übernommen, die ersten beiden durch Ratifizierung oder Zustimmung, das Römische Statut durch ein eigenes Bundesgesetz vom 4.12.2000, unterzeichnet von den SPD-Politiker:innen Johannes Rau, Gerhard Schröder und Herta Däubler Gmelin. Artikel 7 des Römischen Statuts ordnet Apartheid als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein. Der SPD-Politiker Maas schrieb als Justizminister 2017 in einem Geleitwort zu einer Broschüre zur Rassendiskrinierungskonvention: „ICERD – ist der erste weltweite Vertrag, der den Schutz der Menschen vor jedweder rassistischer Diskriminierung sichern soll.“
Aus alledem muss nicht geschlossen werden, dass Israel eine Apartheidsstaat ist. Wohl aber ergibt sich aus den vorgelegten Berichten in Verbindung mit den Verpflichtungen aus internationalen Verträgen zur Bekämpfung von Rassismus die zwingende Konsequenz, angesichts einer triftigen Indizienlage für Apartheid, die vorgelegten Berichte und Befunde ernsthaft zu prüfen. Maßstab einer solchen Überprüfung kann nur das Völkerrecht sein, auf das sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet hat.
Womit man beim Kern des Problems der Debatte zu Apartheid in Palästina-Israel in Deutschland sind: Der Bericht von Amnesty International (die anderen Berichte sind weniger bekannt) rief Ablehnung auf Seiten der Regierung und der Medien hervor. Diese wurde aber nicht auf sachlicher Grundlage begründet. Der Konsens dieser Berichte besteht darin, dass mindestens in den besetzten Gebieten Apartheid herrscht.
Angesichts der Berichte bekamen wir Bekenntnisse zu Israel, wo Begründungen auf der Basis des Völkerrechts gefragt wären.
Die bisherigen Stellungnahmen der Bundesregierung , sind sachlich unbegründet, weil sie jeden Bezug auf die Definitionen des Völkerrechts vermissen lassen. Insbesondere der Einwand, der Amnesty-Bericht leiste dem Antisemitismus „unfreiwillig Vorschub“ ist abwegig. Wenn schon, dann leisten die Menschenrechtsverletzungen der Kategorie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ dem Antisemitismus Vorschub und nicht wissenschaftliche Berichte darüber.
Die deutsche Nahostpolitik ist seit Jahrzehnten parteiübergreifend davon geprägt die Menschenrechtslage der Palästinenser im Interesse deutscher Staatsräson auszublenden. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung fordert „Fortschritte bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten“ nur von der Palästinensischen Autonomiebehörde, nicht aber von der israelischen Regierung. Das geschieht in einer Zeit in der nicht nur die sechs genannten Berichte zu Apartheid im Verantwortungsbereich Israels vorliegen, sondern zusätzlich ein Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestags, gemäß dem die Zustände in der Westbank ethnischer Vertreibung nach dem Völkerstrafrecht „sehr nahe“ kommen.
Die Reaktionen der Verantwortlichen in der SPD auf Mohamed Baaqoul’s aussagen, sind von der bekannten reflexhaft-ängstlichen, ritualisierten Art. Man möchte nicht unter Antisemitismusverdacht geraten: „Für Antisemitismus gibt es bei uns keinerlei Raum“, Baaqoul habe das „Wertefundament der SPD“ verlassen, seine Äußerungen seien „falsch und inakzeptabel, womöglich auch einfach dumm“, „Eine solche Haltung ist innerhalb der SPD nicht akzeptabel“ usw. usw.
Dumm ist es so zu reagieren und über das Stöckchen zu springen, das die Diffamierer der BILD-Zeitung hingehalten haben.
Klug wäre es sich einzugestehen, dass die Menschenrechtslage der Palästinenser in der Partei und in der Gesellschaft insgesamt ein – um es höflich zu formulieren – vernachlässigtes Thema ist, dass man Mohamed Baaqoul’s Äußerungen vielleicht nicht teilt, dass er aber einen Punkt angesprochen hat, der aus der öffentlichen Debatte nicht mehr zu verdrängen sein wird. Der deswegen auch im parteiinternen Diskurs einen legitimen Platz haben sollte. Dass es die SPD-Hessen-Süd, anknüpfend an ihre besten Traditionen, auf sich nimmt diese Debatte anzustoßen.
Es wäre ein fatales Signal, wenn die Partei im Einklang mit der BILD-Zeitung in dieser Angelegenheit eine Disziplinierungsaktion starten sollte. Im neuen im Februar 2022 neu gewählten Vorstand der Jusos von Hessen Süd , haben sieben von zehn Mitgliedern offensichtlich einen muslimisch-arabischen Familienhintergrund. Es ist kein Zufall, dass dort etwas anders über Palästina und Israel diskutiert wird als im Rest der Partei.
Wenn die Zustände im Verantwortungsbereich Israels die Grenze zu „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ berühren oder überschreiten ist es unter keinem moralischen oder sachlichen Gesichtspunkt zu vertreten, dies zu beschweigen oder mit den üblichen Phrasen zu übergehen. In diesem Sinne hat Mohamed Baaqoul mit seinen Äußerungen das Wertefundament des deutschen Grundgesetzes betreten. Dies sollte mit dem Wertefundament der SPD kompatibel sein.
Mit freundlichen Grüße
Helmut Suttor