Anmerkungen zu einer Stellungnahme von Deitelhoff, Forst, Günther und Habermas


Sehr geehrte Frau Prof. Deitelhoff,

folgende Anmerkungen zu Ihrem Verteidgungstext „Dunkle Zeiten“:

1.       Es geht nicht darum, dass Sie Kriegsverbrechen billigen und rechtfertigen. Vielmehr geht es darum, dass Sie triftige Indizien für Kriegsverbrechen nicht zur Kenntnis nehmen: Dass 900-Kg-Bomben mit einem Explosionsradius von 360 m über einem Flüchtlingslager abgeworfen werden, 45 % des Wohnungsbestands in Gaza zerstört oder schwer beschädigt wurden, es inzwischen 11.000 zivile Opfer gibt und 1,5 Millionen Menschen vertrieben wurden (65 % der Gesamtbevölkerung). Ein Jahr nach der Verabschiedung der „Politischen Erklärung zur Stärkung des Schutzes der Zivilbevölkerung vor den humanitären Folgen des Einsatzes von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten“ sollte man von Wissenschaftlern (Sie sind Friedensforscherin) ein ausgeprägteres und konkreteres Erkenntnisinteresse erwarten im Hinblick auf die Frage ob das Völkerrecht eingehalten wird und die Kriegsführung Israels noch mit Selbstverteidigung erklärt werden kann.

Ich denke es spricht deutlich mehr dafür, dass es hier nicht nur um Selbstverteidigung geht, nicht um die „Schonung von Zivilistinnen“ und die Wahrung von deren „Zukunftsfähigkeit“.

2.       Genozid: Wenn Sie Genozid verneinen, wäre es hilfreich auf die Definition zu verweisen. Die Definition im Völkerstrafgesetzbuch § 6 scheint die Tendenz zu begünstigen, diesen Begriff zu als Allzweckwaffe im Meinungskampf zu missbrauchen. Wenn der Begriff für den Holocaust, die Völkermorde in Kambodscha und Ruanda aber auch für den aktuellen Gaza Konflikt angewandt wird, dann geht sein analytischer Gebrauchswert gegen Null.

3.       „Einschätzung der generellen Situation“:

ð  Bei den „drastischen Statements“ israelischer Politiker geht es nicht um im Affekt getätigte Äußerungen unmittelbar nach dem 7. Oktober, sondern möglicherweise um ganz bewusste und gezielte Aussagen. Die Aussage von Avi Dichter („Wir führen Nakba 2023 ein“ datiert vom 12. November. Dichter ist Mitglied des Sicherheitskabinetts, Likud-Mitglied und ehemaliger Chef des Inlandgeheimdienstes, kaum zu erwarten, dass er solche Aussagen ohne politische Absicht tätigt. Bevor sich Netanyahu offiziell von der Zweistaatenlösung verabschiedete (nach Trumps Regierungsantritt), geschah dies durch Mitglieder seines Kabinetts, die äußerten, was der Ministerpräsident dachte.   

ð  Zu dem, was zur israelischen Kriegsführung „einschlägig“ ist, äußern Sie sich kryptisch. „Einschlägig [sei] sich die Aktivitäten der IDF und deren konkrete Zielsetzung anzusehen. Die sehen anders aus.“ Vielleicht könnten Sie diese Erkenntnisse bei Gelegenheit mitteilen. Das hört sich so an, als nähmen Sie die „konkreten Zielsetzungen“ der IDF 1:1, wie sie auf Pressekonferenzen mitgeteilt werden.  Elmar Theveßen, ARD-Korrespondent in den USA deutete an, dass es da möglicherweise noch eine andere Ebene gibt – am 15.11. bei Maischberger (Min 3 ff): Der Einfluss der USA auf die israelische Regierung sei „extrem begrenzt“ Biden und Blinken wollten „eigentlich“, dass die IDF keine 1000- oder 2000-Pfund-Bomben einsetzen, sondern 250-Pfund-Bomben, die „konzentrierter sind, die weniger zivile Opfer zur Folge haben“. Aber Netanyahu höre nicht hin, „ihn scheint das wenig bis nicht zu interessieren.“

ð  Für die aktuelle israelische Regierung ist möglicherweise nicht die „Rückkehr“ zur Zweistaatenlösung die naheliegende Konsequenz aus der aktuellen Lage, sondern eine Nakba 2023. Sie schauen nach meinem Eindruck auf Israel durch eine rosarot getönte Glasscheibe. Diese Option scheint jenseits Ihres politischen Reflektionshorizonts angesiedelt zu sein. Deswegen ziehen Sie die Möglichkeit nicht in Betracht, die Netanjahus Kriegsführung erklärbar machen könnte: Eine Nakba 2023 als Sachzwang herbeizuführen, den Gaza-Streifen so zuzurichten, dass dort kein Leben mehr möglich ist. Die Planungen der israelischen Regierung dafür gibt es. Sie stehen im Internet. 

Freundliche Grüße

Helmut Suttor / Frankfurt


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