Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme
Helmut Suttor, Frankfurt
In Deutschland leben ungefähr so viele Menschen palästinensischer wie jüdischer Herkunft. Hinzu kommen ca. 4-5 Millionen Einwohner mit muslimischem Hintergrund, die weit überwiegend die palästinensische Perspektive im aktuellen Gaza-Krieg und im Nahostkonflikt überhaupt teilen. Dieses Bevölkerungssegment bringt die Erläuterungen unserer Politiker immer weniger in Einklang mit eigenen Wahrnehmungen, vermittelt über Medien und Telefonaten mit Angehörigen vor Ort. Es ist ihnen schwer zu vermitteln, wie der Abwurf von 900-Kg-Bomben des Typs Joint Direct Attack Munitions mit einem Explosionsradius von 360 m (vgl. der SPIEGEL: Alptraum Gaza) in einem Flüchtlingslager eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Völkerrecht entsprechende Form der Selbstverteidigung sein kann.
Vor diesem Hintergrund sollte eine öffentliche Stellungnahme zum aktuellen Gaza Krieg prinzipiell Glaubwürdigkeit in den Augen eines um Objektivität bemühten Betrachters beanspruchen können.
Dies ist offensichtliche nicht der Fall:
Die Stellungnahme spricht von einem „prinzipiell gerechtfertigten Gegenschlag“. Das erinnert ein bisschen an Radio Eriwan. Die „Vermeidung ziviler Opfer“ und die „Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden“ müssten dabei leitend sein. Die Frage ob dies faktisch auch der Fall bzw. erwartbar ist, stellen sich die Autoren des Textes nicht. Im Hinblick auf diese beiden Leitgedanken gibt es von verantwortlichen Politiker Israels explizit gegenteilige Aussagen (u.a. vom Verteidigungsminister und Ministerpräsident Netanyahu zur Vermeidung ziviler Opfer; Avi Dichter, Mitglied des Sicherheitskabinetts zur Friedensperspektive „Wir führen Nakba 2023 ein„).
Die Stellungnahme vermeidet jede Andeutung zur Frage, was gestützt auf israelisches Regierungsverhalten der letzten zwanzig Jahre die Hoffnung auf Bereitschaft zum Frieden nähren könnte. Ebenso wird jede Andeutung vermieden, was denn dafürspricht, dass Israel sich an Kriegsrecht hält, angesichts der Tatsache, dass es seit Jahrzehnten Völker- und Menschenrecht missachtete bis an die Schwelle (oder darüber hinaus) von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Apartheid und ethnische Vertreibung).
Ein breiter Konsens unter Nahostexperten besagt, israelische Politik habe die Hamas gegenüber der Autonomiebehörde bevorzugt, um eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Der Konsens innerhalb der gegenwärtigen Regierung tendiert eher zu einer zweiten Nakba, als zu einer Zweistaatenlösung. Die „Friedenslösung Nakba 2.0“ scheint auch gesellschaftlich zum Mainstream in Israel geworden zu sein.
Begriffe verlieren ihren analytischen Gebrauchwert, wenn sie als Kampfinstrumente im Meinungskrieg inflationär gebraucht werden. Auch wenn es unangemessen ist, im aktuellen Gaza Krieg von genozidalen Absichten der israelischen Regierung zu sprechen, sollte es dennoch aus „Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung“ angezeigt sein, konkreter zu werden im Hinblick auf Verbrechen unterhalb der Schwelle des schlimmsten Verbrechens im Völkerstrafrecht. Prof. Habermas wurde 2015 in der New York Times von Omri Boehm kritisiert, weil er zu Israel schwieg, auch angesichts gravierender Menschenrechtsverletzungen. Inzwischen sind insgesamt sechs Berichte von Menschenrechtsorganisationen hinzugekommen, die Israel für seinen gesamten Verantwortungsbereich oder beschränkt auf die besetzten Gebiete Apartheid testieren. Eine Studie des Wissenschaftliche Dienstes des Deutschen Bundestags (2017) führt zum Thema Ethnische Vertreibung aus, es finde
„sich eine Fülle von hoheitlichen Einzelmaßnahmen, die für sich genommen als Diskriminierung und/oder Menschenrechtsverletzung zu qualifizieren sind. Diese Einzelmaßnahmen ergeben jedoch gleichwohl in der Gesamtschau ein Bild, das der klassischen Vertreibungsdefinition des Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV sehr nahe kommt und das es juristisch zu fassen gilt.“ (S. 5)
Trotz und zu alledem schwieg Herr Prof. Habermas. Er mag wohl erwogene Gründe dafür haben. Es stellt sich allerdings die Frage, ob angesichts dieses Schweigens Glaubwürdigkeit beansprucht werden kann, mit dieser Stellungnahme.
Im Hinblick auf Apartheid wird man mindestens bei den besetzten Gebieten von einer triftigen Indizienlage sprechen können. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollte es deswegen geboten sein, darauf hinzuwirken, dass diese Frage völkerrechtlich geklärt wird, unabhängig von der eigenen Einschätzung. Alles andere ist unter keinem moralischen, rechtlichen oder sonstigen Gesichtspunkt zu rechtfertigen.
Öffentliche Intellektuelle, die nicht einmal dies fordern, werden der Rolle nicht gerecht, die sie im öffentlichen Diskurs haben sollten.
Diese Klärung herbeizuführen wäre im Sinne von normativer Ordnung und außerdem im Sinne einer Feststellung in der Stellungnahme:
„Die elementaren Rechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit sowie auf Schutz vor rassistischer Diffamierung sind unteilbar und gelten gleichermaßen für alle“.
Das setzt vermutlich aktives Erkenntnisinteresse im Hinblick auf Rechtsverletzungen voraus, ebenso, wie aktives Interesse an der Schaffung von Abhilfe.
In der Stellungnahme ist die Rede von einem bundesdeutschen „Selbstverständnis“ das „orientiert“ sei an der „Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde“.
Mit dieser Formulierung bleiben sich die Autoren treu: Gesagt wird, was sein sollte und ignoriert wird, was ist.
Wenn es um Normen in Nahost geht, formuliert der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung was ist. Gefordert werden „Fortschritte bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten“ nur von den Palästinensern, nicht aber von den Israelis – Apartheid hin, ethnische Vertreibung her. Von einer „Orientierung“ an der Menschenwürde kann keine Rede sein. Seit Jahren wird, was verharmlosend als „Siedlungspolitik“ bezeichnet wird, in Wahrheit aber eine Politik zur Annexion der Westbank darstellt, mit ritualisierten Floskeln von deutscher Bundespolitik und fraktionsübergreifend allen Parteien als „völkerrechtswidrig“ kritisiert.
Das ist nicht nur unglaubwürdig, hier stellt sich auch die Frage nach einem palästinenserbezogenen Rassismus. Dieser manifestiert sich, nicht nur aus palästinensischer Perspektive, in der systematischen Ausblendung der Menschenrechtslage der Palästinenser aus dem Wahrnehmungshorizont der offiziellen deutschen Nahostpolitik und Öffentlichkeit.
Das von der Hamas durchgeführte und allein von ihr zu verantwortende Massaker im israelischen Grenzgebiet und die israelische Reaktion darauf führte zu einer Wiederbelebung über Jahrzehnte im Zustand der Latenz gehaltener, traumatischer Erfahrungen aus dem Holocaust und der palästinensischen Nakba. Es ist in der Tat „unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Drohungen gegen Leib und Leben ausgesetzt sind und vor physischer Gewalt auf der Straße Angst haben müssen.“ Niemand, der diese Disposition nicht schon in sich trägt, wird zum Antisemiten oder Judenhasser, weil im Nahen Osten ein Krieg ausgebrochen ist.
Erträglich ist hierzulande allerdings bis heute, dass Palästinenser wie selbstverständlich diskriminiert werden. Dies ist eine Folge und Ausfluss der Ausblendung der palästinensischen Menschenrechtslage und Konfliktperspektive – Bestandteil der DNA der deutsch-israelischen Beziehungen von Anfang an.
Die Würde der Palästinenser ist in diesem Lande antastbar.
Das ist Teil der deutschen Staatsräson, die im deutsch-israelischen Verhältnis durchaus i.S. der vordemokratischen, dem Grundgesetz widersprechenden, Interpretationsvariante Anwendung findet, weil sie als Scheinlegitimation für die Missachtung der Menschrechtslage der Palästinenser in Nahost und Deutschland dient.
Jüngstes Beispiel hierfür sind die Anti-BDS-Beschlüsse, die über einen Zeitraum von vier Jahren die Legitimationsfassade dafür lieferten, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in verfassungswidriger Weise einzuschränken, so das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 20.1.2022. Dies geschah, nicht weil nachgeordnete Behörden in einem Rechtsirrtum befangen waren. Die Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit ist seit Jahrzehnten geklärt. Diese Diskriminierung wurde im Staatsauftrag gefördert und umgesetzt, und zwar auf allen Ebenen: Bund, Länder und Kommunen. In Deutschland wird es weitgehend als normal empfunden aus „Verantwortung vor der deutschen Geschichte“ die palästinensische Erinnerungskultur einzuschränken, etwa beim Thema Nakba (vgl. Wolfgang Benz (Hrsg), Erinnerungsverbot – die Ausstellung „Al Nakba“ im Visier der Gegenaufklärung).
„Mit dem demokratischen, an der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde orientierten Selbstverständnis der Bundesrepublik“ verbindet sich zunächst eine aller politischen Kultur vorausgehender, diese begründender Grundsatz als Minimalkonsens:
Es kann keine Verantwortung vor der deutschen Geschichte geben im Widerspruch zu den Kernnormen unseres Grundgesetzes.
Dies gilt auch für das Verhältnis zu Israel und der jüdischen Minderheit in Deutschland.
Im Grundgesetz ist der Bruch mit der deutschen Vergangenheit vollzogen und damit auch mit einer Staatsräson im Geiste deutsch-nationaler Rechtstradition, die an eine höhere Vernunft appelliert, um Menschenrechtsverletzungen auszublenden oder zu überspielen. Damit fördert man nicht Verfassungspatriotismus, sondern verwirrt das allgemeine Rechtsbewusstsein.
Mit diesem Minimalkonsens ist nicht vereinbar, allgemein, von den Palästinensern ein Bekenntnis zu einem Staat zu verlangen, der ihnen auf Dauer einen Status als Bürger zweiter Klasse zuweist. Wer die Anerkennung des Existenzrechts Israels fordert, ist nachweispflichtig, dass dies für einen Staat gilt, der den Gleichheitsgrundsatz in seinem Rechtssystem einklagbar verankert hat, und zwar „für alle seine Bürger“, wie es in der rechtlich relevanzlosen Gründungserklärung Israels von 1948 heißt. Diese Voraussetzung ist aktuell in Israel in den Grenzen von 1967 nicht gegeben – um von den besetzten Gebieten erst gar nicht zu reden.
Die Stellungnahme bewegt sich in den Grenzen des aktuellen deutschen Mehrheitskonsens zu Israel-Palästina. In politischer Hinsicht zeugt sie von hochgradiger Uninformiertheit über den aktuellen nahostpolitischen Diskurs und die Verhältnisse in der Region. Verfassungsrechtlich krankt sie an den Defiziten, die aus dem deutsch-israelischen Verhältnis seit Jahren resultieren: Die universalistischen Rechtsnormen des Grundgesetzes werden nicht durchgehalten, sondern de facto zu Lasten einer Seite verkürzt.
Um das kommunikative Problem mit Niklas Luhmann auszudrücken.
Dessen Begriff „strukturfunktionale Latenz“ besagt u.a., fehlender Erkenntniswille kann ein Moment des Selbstschutzes beinhalten, wenn Erkenntnis den jeweiligen Binnenkonsens gefährden könnte und dessen Infragestellung mit Risiken und Gefahren verbunden ist. Wissen und Erkenntnis ist danach einer selektiven Wahrnehmung unterworfen. Je nach dem, was dem Erhalt der zu schützenden Struktur, dem Binnenkonsens dient, wird selektiert, was zu wissen bzw. nicht zu wissen, was zu erkennen oder zu übersehen ist. Bewusstheit bzw. Kommunikation können die den Binnenkonsens konstituierenden Strukturen zerstören. Deswegen werde „Bewußtheit bzw. Kommunikation blockiert“ (Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984 S. 458).
Mit Kant könnte man sagen: Um zu Bewusstheit und Kommunikation im Widerspruch zum Binnenkonsens durchzudringen, braucht es in erster Linie Mut, den Mut sich mitzuteilen – öffentlich.