Wege zur Durchsetzung einer demokratischen Debattenkultur: Thesen


(Text zur Tagung des Forums Friedensethik der Evangelische Landeskirche in Baden, 11.11.2023 Karlsruhe. Thema: „Bedrohte Diskurse – Ist bei Themen wie Ukraine und Palästina noch Meinungsfreiheit gegeben?“ Ursprüngliches Thema der Arbeitsgruppe: Rechtswege zum Schutz und zur Durchsetzung der Meinungsfreiheit in Deutschland)

Erfahrungen mit dem kommunalen Frankfurter Anti-BDS-Beschlusses

Mein Name ist Helmut Suttor. Ich komme aus Frankfurt. Kurz zu meiner Person und meinem hier relevanten Hintergrund:

Ich gehöre zu einer Bürgerinitiative in Frankfurt, die Titania-Gruppe. Diese entstand zunächst aus Empörung über die diffamierend-hetzerische Stellungnahme von Uwe Becker zu einer Veranstaltung im Titania-Theater zum Thema Meinungsfreiheit. Becker war damals Bürgermeister, als Dezernent war er Kämmerer und zuständig für Kirchen und den Kontakt zur jüdischen Gemeinde.

In der Folgezeit beschäftigten wir uns mit der Rechtmäßigkeit des Frankfurter Anti-BDS-Beschlusses. Dabei arbeiteten wir mit Dr. Schulz, dem rechtspolitischen Sprecher der FDP-Fraktion im Stadtparlament zusammen.

Die Erfahrungen in Frankfurt kann in gewisser Weise als Vorlauf begriffen werden, für das was sich nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.1.2022 auf Bundesebene abspielte.

Um es in den Worten von Dr. Schulz in einem Brief an den Frankfurter Oberbürgermeister auszudrücken:  

Die von der Stadt ausgeübte Praxis, die insbesondere von Herrn Bürgermeister Becker politisch vorangetrieben wird, stellt eine gezielte Missachtung unseres Grundgesetzes und der Justiz dar. Die Verwaltung, so auch der Magistrat, ist an Recht und Gesetz gebunden.“

Becker machte in Frankfurt als Kommunalpolitiker die Erfahrung: Beim Thema Antisemitismus und Nahost ist es möglich sich über Recht und Gesetz zu stellen – ungestört, offen und über Jahre. Dies hat er mit anderen auf Bundesebene fortgesetzt.

Bis heute mit Erfolg und ohne auf nennenswerten Widerspruch zu stoßen.

These 1:

Die Ausblendung der Menschenrechtslage der Palästinenser gehörte seit den 50er Jahren zur DNA der deutsch-israelischen Beziehungen. Das gilt für die offiziellen Beziehungen, wie für deren zivilgesellschaftliche Abwandlungen, etwa im jüdisch-christlichen Dialog.

Dies musste ein an der deutschen Verfassung orientiertes Rechtsbewusstsein behindern. Das gilt allgemein aber besonders im Verhältnis zu Israel.  

These 2: Zur Staatsräson

Eine Verantwortung vor der deutschen Geschichte im Widerspruch zu unserer Verfassung kann es nicht geben, auch nicht im Verhältnis zu Israel.

Im GG ist ein bewusster Bruch mit einem deutsch-nationalen Verständnis von Staatsräson vollzogen. Dieses vordemokratiche Verständnis postuliert eine höhere Vernunft, die es erlaubt sich situativ über Wortlaut und Sinn unserer Verfassung hinwegzusetzen.

Im Grundgesetz wurde der Bruch damit vollzogen aus Verantwortung vor der deutschen Geschichte, d.h. vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in Deutschland die Missachtung von Recht und Gesetz bis ins verbrecherische hineingesteigert wurde, bis hin zu Angriffskriegen zum Zwecke der Versklavung anderer Völker, bis hin zum Völkermord an den europäischen Juden und anderen Minderheiten.

Die Staatsräson im Verhältnis zu Israel steht im Widerspruch zu unserer Verfassung, wenn sie dazu dient, die Menschenrechtslage der Palästinenser aus dem Wahrnehmungshorizont von Politik und Gesellschaft auszublenden.

Nach Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik steht die Knessetrede von Merkel in diesem Kontext – so in einem 2015 verfassten Aufsatz.

Danach ging es Merkel weniger um eine Neuorientierung deutscher Israelpolitik, sondern darum einer abnehmenden öffentlichen Zustimmung zur bestehenden Politik entgegen zu wirken.

Die grundsätzlich proisraelische Orientierung der deutschen Politik wird von weiten Teilen der Bevölkerung nicht länger geteilt wird.“

Es geht demnach insoweit um eine rhetorische Kompensationshandlung Merkels um das Legitimationsproblem deutscher Israel-Politik zu überspielen.

Im offiziellen Diskurs von Bundesregierung und Leitmedien gerät das Bekenntnis zu

Israels Existenz und Sicherheit als deutsche Staatsräson

zu einer Norm mit Verfassungsrang neben dem Grundgesetz.

Das ist eine problematische Fehlentwicklung.

Das in der Bevölkerung vorhandene Gefühl für Unrecht wird betäubt durch den Appell an eine vordemokratische, mit dem Grundgesetz in Widerspruch stehende meta-rechtliche Legitimationsfassade.

These 3:

Die Missachtung des Demokratiegebots ist nicht nur verfassungswidrig, sie schwächt auch die diskursive Kompetenz aller am zivilgesellschaftlichen Meinungsstreit Beteiligten

Nach dem Willen des Grundgesetzes (Art. 20) hat sich die „demokratische Willensbildung des Volkes“ – so die rechtliche Bezeichnung für zivilgesellschaftlichen Diskurs – „staatsfrei“, d.h. ohne lenkende und steuernde Einflussnahme des Staates zu vollziehen. Unser Grundgesetz hat als Leitbild den mündigen Bürger und nicht den deutschen Michel, der abnickt, was von oben kommt.  

Das Grundgesetz, so das Bundesverfassungsgericht „vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien“.

Die Beziehung zu Israel habe in Deutschland traditionell einen „sehr spezifischen Platz im politischen System und im öffentlichen Diskurs“. Sie sei als „staatsoffiziell zu charakterisieren, getragen vom „politischen Estabishment“ – so der Antisemitismusforscher Peter Ullrich.

Der Staat hat die Aufgabe die jüdische Minderheit in Deutschland zu schützen, wenn Sie bedroht wird. Er hat aber nicht die Aufgabe im zivilgesellschaftlichen Diskurs Partei zu ergreifen, wenn es um Antisemitismus und Nahost als Meinungsstreit geht.

Dies geschieht aber seit Jahren und in den letzten Jahren durch die Anti-BDS-Beschlüsse mit besonderer Akzentuierung. Diese stellen offensichtlich eine lenkende und steuernde Einflussnahme von Staats wegen auf den öffentlichen Diskurs dar. Dies ist nicht nur verfassungsrechtlich problematisch, sondern es schwächt auch die diskursive Kompetenz aller am öffentlichen Meinungsstreit Beteiligten.

Beschädigt werden also auch jene, denen staatliche Fürsprache helfen will.

In der jüdischen Minderheit in Deutschland herrscht inzwischen eine Mentalität vor, die eigenen Informations- und Diskussionsschranken für den Rest der Mehrheitsgesellschaft verbindlich machen zu wollen. Man hat den offenen Diskurs verlernt und fordert die Einschränkung der Meinungsfreiheit, in dem man Veranstaltungen zu verhindern versucht mit der immergleichen schablonenhaften Argumentation.

These 4:

Höchstrichterliche Urteile bleiben weitgehend wirkungslos, wenn sie von Politik und Gesellschaft nicht verteidigt werden.

Nach dem Urteil des BVerwG am 20.1.2022 zu den kommunalen Anti-BDS-Beschlüssen war zu beobachten, dass dieses in der öffentlichen Auseinandersetzung keine Rolle spielt. Dies zeigte sich insbesondere an der gleichzeitig einsetzenden Debatte zur Documenta, bei der über BDS gesprochen wurde, als gäbe es kein Urteil.

In der Bundestagsdebatte zur Documenta wurde die Kulturbeauftragte des Bundes Claudia Roth angegriffen, weil sie dem BDS-Beschluss nicht zugestimmt hat.

Das Urteil spielt auch keine Rolle bei den Zukunftsplanungen des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein. In dessen Text zur „Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“  vom November 2022 wird das Urteil des Bundesverfassungsgericht mit keinem Wort erwähnt.

Mit dem Strategen Klein wird einer der Hauptverantwortlichen für verfassungswidrige Antisemitismusbekämpfung seit 2017 auch mit der künftigen Umsetzung dieser Aufgabe betraut.

Solange dieser Zustand der staatlich geförderter Verwahrlosung unserer Rechtskultur anhält, kann von einer demokratischen Debattenkultur auch keine Rede sein.

These 5:

Für die öffentliche Debatte sind nicht Urteile entscheidend. Entscheidend ist, wie das öffentliche Bewußtsein geprägt werden kann – im Einklang oder im Widerpruch zur Verfassung.

Die Anti-BDS-Beschlüsse eröffneten für einen Zeitraum von vier Jahren die Möglichkeit, Thematisierungen aus palästinensischer Konfliktperspektive als antisemitisch zu stigmatisieren.

Insbesondere der Anti-BDS-Beschluss des Bundestags wurde dabei, wie ein Gesetz behandelt. Der Antisemitismusbeauftragte Klein sah seinen Amtsauftrag darin, diesen Beschluss umzusetzen.

Ohne diese Vorgeschichte der staatlich beförderten Einstimmung der Öffentlichkeit im Hinblick auf das, was statthaft bzw. auf dem Index steht, kann man die z.T. in vorauseilendem Gehorsam reflexhaft vollzogene Selbst-Gleichschaltung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen nicht verstehen.


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